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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ob solche Fragen nur Splitter sind, die man einsammelt, Splitter auf dem Weg, den man gekommen ist und den man jetzt versucht, zurückzuverfolgen, den ich versuche, zurückzuverfolgen, um einen Anfang zu rekonstruieren, den Anfang einer Geschichte, die, wie mir scheint, die Geschichte eines anderen ist, nicht meine. Es sind Splitter, die sich nie ganz und deshalb auf die unterschiedlichste Weise aneinanderfügen lassen. Und doch kann nicht einer dieser rekonstruierten Anfänge verhindern, dass die Erinnerung an Inez und an ihre Hütte am Strand, in der es immer ein bisschen nach Kaffee roch, mit jedem Mal schwächer wird. Ich werde nie herausfinden, ob ich das, was geschehen ist, hätte verhindern können, weil ich bereits ein Teil davon war, ehe ich es wusste. Nur eines weiß ich jetzt noch mit Sicherheit: Wenn die Fähre in Klintehamn anlegt, wird von all dem nichts weiter übrig geblieben sein als ein Farbring zur Kennzeichnung der Vögel, den Inez mir mitgegeben hat, und eine Aktentasche. Aber in der Aktentasche sind Dokumente über ein Leben, das nicht mich betrifft, sondern andere.
    Vielleicht wäre ich ohne den Rotblonden schon nach ein paar Tagen wieder abgefahren. Inez beachtete mich nicht. Niemand beachtete mich. Die Scouts machten jeden Tag ihre Tour. Die Fähre kam und fuhr wieder ab. Die Insel lag da in ihrer windigen Eintönigkeit. Morgens blieb ich im Bett. Ich langweilte mich. Hätte der Rotblonde mich nicht so belagert, hätte ich aufgegeben. Ich hätte Inez nie aufs Plateau eingeladen. Ich war gekränkt.
    Am Abend bevor Inez aus Visby zurückkam, klopfte er bei mir an. Er stand in Jacke und Schal vor meiner Tür. Er wirkte ungeduldig.
    Und weil ich nichts Besseres vorhatte, ging ich mit ihm denselben Pfad wie zuvor mit Inez. Der Aussichtspunkt auf den Klippen lag östlich vom Leuchtturm. Wir liefen den Pfad zuerst ein Stück abwärts in Richtung Strand und stiegen dann an einer kleinen Abzweigung, die von Schafshufen ausgetreten war, zum Aussichtspunkt hinauf. Er lag nicht sehr versteckt, und der Rotblonde hätte ihn auch allein finden können. Im Grunde war es egal, von welchem Punkt auf der Klippe man sich den Lummensprung ansah, die Vögel nisteten überall in der Steilwand. Aber ihm schien es wichtig. Also führte ich ihn an die Stelle, von der aus ich mit Inez über die Felsen zur Mulde geklettert war. Dort blieben wir stehen.
    Die Vögel hatten sich am Abend zu Tausenden auf dem Wasser vor der Steilwand versammelt. Die Wellen hoben die schwimmenden Tiere an und ließen sie wieder herunter, und es sah aus, als wären es nicht die Wellen, sondern eine rhythmische Bewegung, die jeder einzelne Körper in der dunklen Masse der Vögel in regelmäßigen Intervallen vollzog. Der Lärm stieg gewaltig zu uns hoch. Von den Rändern der bewegten Masse kamen immer wieder Tiere zurück zur Klippe geflogen, sie stießen ihre grellen Schreie aus, es stank nach Kot.
    »Beim ersten Mal entzündet es bei allen den Traum vom Fliegen«, rief ich.
    Auf einem Felsvorsprung nicht weit von uns hockten zwei graufleckige Vogeljunge. Sie reckten ihre Hälse über die Kante, bis eines von ihnen das Gleichgewicht verlor und fiel. Das Küken, das zurückblieb, torkelte. Es drohte, auf die Seite zu schlagen, Kopf und Hals schon über der Tiefe. Sein Körper zitterte, der Wind blätterte im Flaum. Es wurde von einer ausgewachsenen Lumme, die sich flügelschlagend hoch aufrichtete, ebenfalls über die Kante gescheucht. Der Rotblonde schob die Hände in die Taschen.
    »Das ist alles?«, sagte er.
    »Dachten Sie, hier gibt’s ’ne Würstchenbude?«
    »Wenn das alles ist, können wir wieder umkehren. Ich bin nicht so für Natur.«
    »Ich dachte, Sie wären ganz scharf drauf.«
    »Ich habe gesehen, was ich wollte«, sagte er lächelnd. »Ich kann auf Sie zählen, mein Lieber. Sie sind bereit, einem Landsmann zu helfen.«
    Ich kickte einen Kothaufen weg. »Und Inez? Mit einer Landsmännin haben Sie’s nicht so oder was?«
Glaubst du Chorkind, du kannst mich gegen sie ausspielen
, der Kot zerfiel zu weißem Staub.
    »Ach, kommen Sie!« Er stieß mich leicht in die Seite. »Sie sind doch nicht einer von diesen politisch überkorrekten, aber noch ungefestigten jungen Männern?« Seine Augen schimmerten. »Wissen Sie«, er nahm vertraulich meinen Arm, »es ist mir einfach zu laut hier. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht!«
    Er versuchte, lässig neben mir herzuschlendern, was wegen der Felsen schwierig war.
    »Jetzt seien Sie

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