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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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drehte sie das Spiel um. Aber das alles wusste ich am Anfang nicht.
    In den Tagen, die dem Ausflug auf die Klippen folgten, kam ich nicht an sie heran.
    Ich ging schwimmen. Ich wusch meine Sachen im Meer und legte sie zum Trocknen auf die Felsen. Ich achtete darauf, dort schwimmen zu gehen, wo Inez mich von ihrem Bürofenster im Museum aus sehen konnte, ich legte mich auf die Steine. Auf dem Wasser trieben Federn und weißer Schlick. Sportler waren im Hafen angekommen. Sie zogen kurzärmelige Neoprenanzüge an. Später sah ich sie in roten Hochseekajaks um die Insel jagen, neben ihnen im Motorboot stand der Trainer mit einem Megaphon. Ich sah zu, wie sie sich quälten, ich hörte den Knall, mit dem die Kajaks, von den Wellenkämmen herabgeschleudert, abprallend auf dem Wasser aufsetzten, während meine Badehose langsam trocknete und der Himmel noch blauer wurde und ich für eine Weile alles andere vergaß.
    Als ich die Augen wieder öffnete, saß der Rotblonde neben mir.
    »Habe ich Sie geweckt?«
    Ich schnellte hoch, aber die Sonne blendete mich.
    »Und wenn schon.« Ich ließ mich auf einen Ellbogen zurückfallen.
    »Der warme Wind, nicht wahr. Diese Meerluft. Das legt sich alles so schön um die Schläfen. Ich könnte auch ein Nickerchen machen.«
    »Ich wollte gerade schwimmen gehen.«
    »Sie sind jung.«
    »Ich werde auch in zwanzig Jahren noch schwimmen gehen.«
    »In zwanzig Jahren wird hier niemand mehr schwimmen. Dann ist das ein stinkendes Schwefelloch.«
    »Sagt wer?«
    »Tun Sie nicht so. Unsere Inselwärterin redet von nichts anderem! Das müssten Sie doch wissen. Sie sind doch ganz eng mit ihr.«
    »Inez? Die habe ich grade erst kennengelernt.«
    »Sie
wurden schon zu diesem Spektakel in die Klippen geführt.«
    »Ja und?«
    »Ich habe sie beide losgehen sehen«, sagte er. »Und da Inez mich noch nicht mitgenommen hat, vermute ich, dass dieser Ort etwas Besonderes ist. Sie zeigt ihn nur guten Freunden. Sie sind aus Deutschland, nicht wahr? Berlin, nehme ich an?«
    »Kommt doch jeder aus Berlin, wenn er Deutscher im Ausland ist«, sagte ich,
und jetzt verschwinde, du Chorkind
, aber das half nicht.
    »Ganz schlechter Witz.« Er kniff die Augen zusammen. »Könnte von mir sein. Ich finde es übrigens schön, im Ausland auf Landsleute zu treffen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich einmal dort auf die Klippen zu führen? Ich bin sehr an diesen nächtlichen Ereignissen interessiert. Inez fährt, wie ich gehört habe, für zwei Tage nach Visby, um Material zu besorgen. Heute oder morgen wäre also eine gute Gelegenheit.«
    Ich lachte. »Sie meinen, Inez soll nichts davon erfahren?«
    »Frauen können manchmal eigen sein«, sagte er.
    »Aber wenn Inez nicht will, dass Sie da hoch gehen, wieso sollte ausgerechnet ich dann Ihr Komplize werden?«
    »Weil Sie nett sind, und weil Sie den Weg kennen.«
    »Das reicht nicht.«
    »Im Tiefenbecken vor Gotland platzen ununterbrochen Schwefelwasserstoffblasen. Bald gibt es hier nur noch Gift.«
    »Ich soll also den Mund halten.«
    Er zuckte mit den Schultern. »Manche Streiche erfordern eine gewisse Geheimhaltung. Das macht das Leben erst interessant.« Und dann lachten wir, er ein bisschen heftiger, pustend und aus einem mir nicht ganz klaren Grund.
    »Was wollen Sie überhaupt da oben?«
    Sein Lachen setzte aus. »Was wollten Sie denn da?«
    »Oh, Mann«, sagte ich, legte mich zurück und verschränkte die Arme unter dem Kopf. »Ich wollte eigentlich gerade ein bisschen in der Sonne vor mich hindösen.«
    »Gleich, mein Lieber, ich lasse Sie gleich Ihr Nickerchen machen. Ich vermute aber, dass Sie nicht zum Dösen auf diese Insel gekommen sind.«
    »Nee«, sagte ich. »Um mir Kamikaze-Vögel anzugucken.«
    Ich hörte, wie er aufstand, sich die Hosen abklopfte und sagte: »Dann melden Sie sich doch bitte heute Abend bei mir.«
    Ich vermied es, vor Mitternacht in mein Zimmer zu gehen. Ich lief in die Wiese hinein, zwischen Wacholderbüschen hindurch, ich hatte die
Dagens Nyheter
dabei. Ich suchte mir einen Aussichtspunkt. Ich las bis zum letzten Licht und saß dann noch eine Weile da, und als ich zurückkam, war das Fenster des Rotblonden dunkel.
     
    Hier auf der Fähre, im Geruch nach Abgasen, Tang und feuchtem Teppich und mit dem Abstand von drei Monaten, scheint es ganz unnütz, sich zu fragen, ob es einen bestimmten Moment gegeben hat, in dem dieses Fieber, das noch immer andauert, begann. Ob es mit einem Mal da war und ob der Rotblonde es ausgelöst hatte, oder

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