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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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gehangen. Trotz allem. Sie hatte ihm erklärt, dass es etwas bedeute, wenn man denselben Vogel mehrmals sehe. Auf einem Spaziergang war eine Dohle vor ihnen aufgeflattert und hatte sich wenige Meter weiter auf einem Ast niedergelassen, um dann mit trägem Flügelschlag voranzusegeln, bis sie sich auf ein Geländer, einen Mülleimer, ein Hausdach setzte und überraschend dicht vor ihnen wieder aufflog.
Das ist unsere Dohle
, hatte Inez gesagt. Von da an hatte sie das bei jeder Dohle gesagt, die sie gesehen hatten.
Unsere Dohle
.
    Das hätte er wissen müssen. Das hätte er ernst nehmen sollen. Diese krampfhafte Anhänglichkeit. Von der sich nicht sagen ließ, ob sie durch ein Verlusterlebnis verstärkt wurde oder ob sie einfach da war. Eine Eigenart. Ein Wesenszug.
    Eine Charakterschwäche. Jedenfalls in seinen Augen.
    Inez konnte nicht loslassen. Auch damals war sie ihm gefolgt. Als hätte es die Fete auf Feldbergs Datsche nie gegeben. Als wäre er auf der Fete nicht deutlich genug gewesen. Als hätte er ihr nicht vor aller Augen klargemacht, dass es aus war, stand sie vor seinem Wohnheim in Berlin-Karlshorst. Inez Rauter. An einem Frühherbstdienstag 1984. Sie trug eine Latzhose und eine weiße Bluse mit kurzen Ärmeln. Die Jacke hatte sie über den Arm gelegt. Sie stand nicht im Hauseingang oder in der Nähe der Kiefer, die auf dem Streifen Gras vor dem Haus wuchs. Sie stand auf dem Gehweg, und alle, die hier wohnten, mussten an ihr vorbei.
    Ton war von einer Vorlesung zum Thema »Probleme des Imperialismus der BRD und seiner Bekämpfung« an der JHS Potsdam/Eiche zurückgekehrt, die er als Gast regelmäßig besuchte. Er parkte das Auto neben Fahrradständern und Müllkübeln, und bevor er aussteigen konnte, riss sie die Beifahrertür auf. Sie ließ sich auf den Sitz fallen, schnallte sich an und sagte: »Wir sind keine Fliegen, die man einfach so wegwischt.«
    Er hatte auf die Uhr gesehen. Er hatte nicht auf die Uhr gesehen, um pünktlich zum Handballtraining zu kommen, das in zwei Stunden begann. Er sah auf die Uhr, um festzustellen, ob die Kollegen schon Dienstschluss hatten. Aber es war ganz egal, ob sie Dienstschluss hatten oder ob es unter diesen Umständen überhaupt einen Dienstschluss gab. Immer bewegte sich irgendwo eine Gardine.
    »Was willst du.«
    »Was ich will?«
    »Red ich so undeutlich?«
    Er startete den Motor. Es war ein beruhigendes, lautes Geknatter. Er stieß rückwärts aus der Parklücke, schaltete übergangslos in den Ersten, Sand spritzte auf.
    »Du hast mir ein Kind gemacht, Felix«, sagte sie. »Unser Kind.«
    Er hatte sich damit beschäftigt, einen LKW zu überholen und an der nächsten Ampel rechts abzubiegen.
    »Ich will Abi machen. Studieren. Du kannst mich damit nicht allein lassen.«
    »Du hättest abtreiben können.« Er schaltete hoch. »Abtreiben. Wegmachen. Was weiß ich.«
    »Das wolltest du nicht.«
    »Na und? Du kriegst es doch, nicht ich.«
    Er war rechts abgebogen und fuhr eine leere, lange Straße entlang. Inez war still. Dann legte sie eine Hand auf seine Hand, die auf dem Steuerknüppel lag.
    »Felix«, sagte sie sanft. »Habe ich was falsch gemacht? Ich will es richtig machen, aber du musst mir sagen, was.«
    Er zog die Hand weg.
    »Gut, ich habe einen Dickschädel. Aber du hast gesagt, das gefällt dir. Du hast gesagt, du hasst es, dass in diesem Land alle so schlaff sind. Was ist denn los? So bist du doch nicht!«
    »Dann bin ich jetzt eben anders.«
    »Und das Große, für das wir gemacht sind? Unser Französisch? Und die Solidarität?«
    »Ich fahr dich zum Bahnhof. Du nimmst den nächsten Zug. Ich wette, deine Eltern haben keinen blassen Schimmer, wo du bist. Hast du Geld?«
    Inez sah nach vorn, geradeaus, auf die Straße. Der Auspuff war sehr laut zu hören.
    »Auf einmal interessieren dich meine Eltern«, sagte sie. »Du machst dir ausgerechnet um
meine Eltern
Sorgen?« Ihr Gesicht bekam rote Flecken. »Glaubst du, ich geh jetzt einfach nach Hause und heule mich aus, weil sie recht hatten? Mein Ritter ist ein Arschloch!«
    Er hatte nicht direkt den Bahnhof angesteuert. Er nahm einen Umweg. Er fuhr am Güterbahnhof geradeaus und durch die Kleingärten und wusste nicht, warum.
    »Mach jetzt bloß keinen Aufstand.«
    »Mach ich nicht. Bestimmt nicht. Versprochen.« Sie saß da und sah starr auf das Handschuhfach, und er spürte, dass sie dagegen ankämpfte zu weinen, was ihn wütend machte. Er drückte aufs Gas und raste auf eine Reihe Apfelbäume zu und beruhigte

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