Sturz der Tage in die Nacht
meinem Engagement persönliche Erfahrungen stecken. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, zurückgewiesene Väter gezielt zu unterstützen. Die nichtverheirateten unter ihnen werden massiv diskriminiert.
Inez tanzte mit geschlossenen Augen. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt, und wenn sie das Licht der Discokugel traf, konnte er ihre schmalen Halsmuskeln sehen.
Schreibtischtäterinnen in den zuständigen Bundesministerien versuchen, an diesem schändlichen Zustand festzuhalten. Doch steter Tropfen höhlt den Stein. Die Zeit wird auch diese Ungerechtigkeit auf den Müllhaufen der Geschichte befördern. Und wir werden diesen Vorgang beschleunigen.
Kein Vater kann es ertragen, sein Kind nicht zu sehen.
Inez wirkte nicht, als ob sie tanzte. Sie hielt sich bloß in der Musik auf. Als er sie das letzte Mal tanzen sah, lag die Aussprache in Berlin-Lichtenberg schon ein paar Wochen zurück. Die Luft im Klub war stickig. Sein Hemd klebte am Körper, und mehrmals ging er nach draußen, um sich auszulüften. Inez konnte nicht aufhören zu tanzen. Sie hielt sich am Rand der Tanzenden und stellte sich ihm mit geschlossenen Augen zur Schau. Er sah ihren Bauch unter dem gelben Nicki an. Noch konnte man denken, sie hätte nur zu viel Brause getrunken.
Als er sie zum letzten Mal tanzen sah, war ihm schon klar gewesen, dass es kein weiteres Mal geben würde. Rauchend lehnte er an der Wand. »Sie sind wie Königskinder«, sang Petra Ziegler, »würden alles Gewes’ne verlassen …« Inez übergab ihren Körper entspannt der Musik.
Am Nachmittag hatte sie ihrem Vater in einem ihrer Wutausbrüche die Schlüssel vor die Füße geworfen. Sie hatte die Schlüssel in den Flur geworfen und war die Treppe hinuntergerannt. Alles, was sie bei sich hatte, als sie zu ihm kam, war ein blaues Band, eines jener Haarbänder, die sie täglich trug im Sommer 1984.
Deshalb sind die Väter mein Kernthema in der Familienpolitik.
Inez wollte bei ihm wohnen, in einem Achtquadratmeterzimmer, auf einem Neunzigzentimeterbett, in seinem Zimmer mit tropfendem Wasserhahn. Sie war davon ausgegangen, dass er sich um alles kümmerte. Er hatte sie in den Wartburg verfrachtet, und sie waren herumgefahren, und auf der Disco hatte er ernsthaft darüber nachgedacht, wie er unbeschadet aus der Geschichte herauskommen könnte.
Wie sie aus der Geschichte herauskäme, fragte er sich nicht. Er hatte sich das auch in den folgenden Jahren nicht gefragt. Was aus ihr oder dem Kind geworden war, wollte er damals nicht wissen. Feldberg hatte ihm dieses oder jenes erzählt. Abfall schulischer Leistungen, Schulverweis, Ausschluss vom Abitur. Aber jedesmal, wenn Feldberg davon angefangen hatte, hatte er ihn abgewürgt.
Es interessierte ihn nicht.
War ihm schnuppe gewesen.
Ging ihm am Arsch vorbei.
Nur ihr Gesicht, vom Laternenlicht beschienen im Wartburg, hatte ihn noch eine Weile verfolgt. Aber die Sache war die, dass er auch daran nicht mehr rühren wollte.
Ton fixierte den Mond.
Die Sache war die, dass er dieses Mädchen sonst wieder unter Tränen sagen hörte, dass sie ihn liebe, und sich selbst hörte er lachen, gnadenlos, das ließ sich nicht verheimlichen, und dann sagte jemand,
die Frauen sind das Hinterland eines jeden Tschekisten
, und auch das war er selbst, und immer waren diese Rückblenden eindeutig gegen ihn.
Rührseligkeiten, denen er nicht nachgeben durfte. Nicht, dass er am Ende noch falsch rüberkam. Man brauchte Textsicherheit. Man musste die Fäden, die man ausgelegt hatte, im Auge behalten. Historischer Hintergrund, Setting, möglichst klein klein, kein Mensch wusste ja heute noch was. Wenn man einen dieser Fäden verlor, stürzte sich die Journaille darauf wie eine Hyäne. Aber das passierte ihm nicht, dem Mover und Shaker. Da zahlten sich die Monate aus, die er damit verbracht hatte, zu kapieren, was eine Legende war und wie man sie unter Druck aufrechterhielt. Das hätten sie nicht gedacht, die Genossen, dass ihre Taktik auch heute noch sinnvoll war. Bei einem seiner nächsten Besuche bei den SO s würde er das mal anbringen. Er würde ihnen das mal erklären. Er sah schon, wie sie den Schnaps vor Aufregung auf ihre Schlipse verschütteten.
An einem Dienstag im Frühherbst war er der Geschichte mit Inez endgültig entkommen. Ein Dienstag, Mitte September 1984. Die Vögel sammelten sich auf den Feldern, Kraniche, Reiher, Störche. Inez hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. An einer Klotür im Bahnhof stand:
Zum Scheißen kein Papier, aber
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