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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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sich erst, als sie die Apfelbaumallee erreichten. Die Kleingärten wechselten sich mit Einfamilienhäusern ab, vor einem verfallenen Schuppen stand ein Transparent
Schöner unsere Städte und Gemeinden!
Ton merkte, dass er sich nicht mehr auskannte.
    »Ich glaube, es wird ein Junge«, hatte Inez auf einmal gesagt.
    »Von mir aus.« Er hatte in diesen schlecht asphaltierten Kleingartenstraßen hinter dem Baumschulenweg die Orientierung verloren.
    »Hältst du mal an?«
    »Warum?«
    »Bitte. Halt bitte mal an.«
    »Ich dachte, das mit dem Kotzen ist längst vorbei.«
    Er war auf den ausgefahrenen Grasstreifen am Straßenrand gefahren.
    »Kannst du den Motor ausmachen?«
    Er hatte den Motor ausgemacht.
    »Danke.« Es war auf einmal sehr ruhig im Auto. Irgendwoher kam Gegacker von Hühnern. »Ich will, dass wir uns einen Namen für ihn ausdenken.«
    An den Apfelbäumen vor ihnen hingen ein paar Früchte, und ein paar waren schon heruntergefallen.
    »Er kann nicht ohne einen Papa aufwachsen.«
    »Ich überleg mir was.«
    »Du überlegst dir was?«
    »Ja.«
    Inez faltete ein Stofftaschentuch auseinander. Sie putzte sich die Nase.
    »Es gibt Kinderheime«, sagte er.
    »Was?«
    »Du willst doch Abi machen. In so einem Heim verpassen sie ihm eine ordentliche Erziehung. Da kriegt er sogar eine viel bessere Erziehung. Wenn man den sozialistischen Dreh nämlich von klein auf raus hat, hat man es später leichter.«
    »Du willst einen kleinen Soldaten aus ihm machen?«
    »Falscher Dampfer, Inez.«
    »
Du
hättest nie in ein Heim gewollt.« Sie wurde laut. »Wenn sie dich in ein Heim gesteckt hätten, wärst du durchgedreht!«
    »Du kannst das nicht alleine.«
    »Nein. Aber dafür kann das Kind doch nichts!«
    »Jetzt zerbrich dir nicht dein kluges Köpfchen«, hatte er so ruhig wie möglich gesagt. »Die bürgerliche Kernfamilie ist sowieso bloß noch ein Überbleibsel des absterbenden Imperialismus.«
    Das hatte sie ihm nicht abgenommen. Er sah es an ihrem Blick. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte ihn angegrinst. Er hätte sofort mitgemacht. Später hatte er oft gedacht, dass in diesem Moment alles hätte umschlagen können. Es war ein seltsamer Moment, ein kurzzeitiges Schweben, in dem die Apfelbäume wie im Traum dastanden, verwaschen, verwachsen und tiefrot. Wenn sie in diesem Moment gegrinst hätte, hätte er sagen können:
Wenn er erst mal tot ist, unser Imperialismus, werde ich den Sexappeal seines Sterbebetts ganz schön vermissen!
Sie hätten herumgealbert wie immer, und sein Leben wäre vollkommen anders verlaufen, und es kam ihm seltsam vor, dass eine kleine Regung, ein Wort oder das Ausbleiben von beidem genügte, um die Zukunft auf Jahre hinaus zu bestimmen. Aber vielleicht hatte für sie dieser Moment gar nicht existiert.
    »Zingst«, hatte sie als Nächstes gesagt, »der Zeltplatz in Zingst mit dem Kino und der Eisbude. Weißt du noch?«
    »Klar weiß ich noch.«
    »Das ganze Eis, das du spendiert hast, und die Erzieherin ist fast durchgedreht, weil die Kinder in Zweierreihe sich nicht mehr brav an den Händen halten wollten.«
    »Die war nur sauer, weil sie selbst keins abgekriegt hat. Kein Eis.«
    »Da war ein kleines Mädchen in der Gruppe. Das sah aus, als hätte es zwei gebrochene Oberarme.«
    »Und?«
    »Was war das?«
    »Das waren zwei gebrochene Oberarme. Jemand musste ihr die Eistüte halten.« Er hatte kurz überlegt, auszusteigen und ein paar von den Äpfeln aufzulesen. Und wenn die Äpfel Apfelsinen oder Pfirsiche gewesen wären, hätte er das auch gemacht. »Zieh keine falschen Schlüsse, meine Süße. In Zingst gibt es überhaupt kein Heim.«
    »Dass du so ein Feigling bist«, hatte Inez sehr leise gesagt, »das hätte ich nicht von dir gedacht.«
    »Dann können wir ja losfahren.«
    »Nein, warte. Warte! Felix«, hatte sie gesagt. »Felix. – Mein Herz.« Und dann war ihr nichts mehr eingefallen, und er wusste, sie wollte Zeit gewinnen, und irgendwie wollte er das auch, obwohl er sie so schnell wie möglich loswerden wollte, raus aus seinem Auto, seinem Leben, ab in den nächsten Zug, der nach Greifswald ging, und dann nie wieder von ihr hören, das war das Beste, und er hatte trotzdem gewartet, hatte nichts gesagt und sie nicht angesehen, nur das Schild übers Schönerwerden und die Apfelbäume, von denen schon erste Blätter fielen, und er wollte ihr das zeigen, die Blätter und die gelbrote Färbung der Früchte an den krummen Ästen. Wie verrenkt standen sie da. Er wollte sie in den

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