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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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zu trainieren. Es ging darum, Hilfsmittel zu vermeiden und trotzdem nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als ein neuer Laden in Greifswalds Innenstadt eröffnete, mit bunten Tüchern und Räucherstäbchen im Schaufenster und Tarotkursen, die Hilfe für alle Lebenslagen anboten, sah er das nur als ein weiteres Sympton einer schwächlichen Zeit. Es gab nichts, was ihn mit diesem Laden verband.
    Fast nichts.
    Eines Tages war er vor dem Laden stehengeblieben, weil er nicht mehr wusste, wo er seinen Hausschlüssel hingesteckt hatte. Er hatte im Stoffbeutel zwischen Weintrauben, Schweineschnitzel und Buttermilch nach ihm gegraben, als eine buntgewandete Dame zu ihm herausgeschossen kam. Wie sich herausstellte, war sie die Inhaberin des Ladens. Wie sich weiter herausstellte, hatte sie ihn schon oft beobachtet. Sie hatte sich darauf gefreut, ihn vorbeigehen zu sehen, irgendwann sogar darauf gewartet. Diesmal fasste sie Mut. Sie nahm seine Hand und sah ihm fest und erregt in die Augen. Mit einer Stimme, der die vielen Sandeldufthölzer anzuhören waren, die sie in ihrem Leben inhaliert hatte, sagte sie: »Ich beneide Sie nicht. Sie haben ein schwieriges Karma.«
    Er verliebte sich in sie. Er verliebte sich nicht, weil er an sein schwieriges Karma glaubte. Er verliebte sich, weil er in ihr einen Mitstreiter sah. Sie mochte den falschen Worten, dem falschen Konzept, vielleicht sogar der falschen Weltvorstellung anhängen, aber das Prinzip hatte sie verstanden. Das Prinzip, Geheimnisse in die Menschen hineinzubringen. Sie sich selbst zum Rätsel werden zu lassen.
    Feldberg sah das wie einen Kokon, in den man die Menschen verstrickte. Wenn man Glück hatte, ergaben die einzelnen Kokons ein Netz, das sich von einem zum anderen spannte, wie im Fall dieses Jungen, der sein aktueller Auftrag war. Feldberg hatte ihn zum Mittelpunkt dieses Netzes gemacht, das sich zu Inez und Felix weiterspinnen ließ.
    Regte sich der Junge, erzitterte das Gebilde und bewegte die anderen mit.
    Feldberg sah sich als einen, der die Geheimnisse in den Menschen groß machte. Er gab ihnen Schwere und Konsequenz, denn ohne Konsequenzen wurden sie nicht wirklich. Er hatte das schon immer so gehandhabt. Und er würde es auch weiterhin so handhaben. Nach dem großen Feuer auf seiner Datsche hatte er sich das geschworen. Und als solle er sich für immer daran erinnern, war von seinem großen Feuer bis heute ein dunkler Fleck zurückgeblieben, eine Stelle, um die das Gras vorsichtig herumzuwachsen, die es aus dem Boden auszuschneiden schien. Er hatte den Fleck wieder und wieder mit Grassamen bestreut und gewässert, aber die Erde schien an dieser Stelle so bitter, dass die Samen nicht aufgingen und in ihren Hülsen verfaulten.
    In einer Hinsicht war die Methode der Karma-Beraterin der seinen allerdings überlegen. Die Rätsel, die sie in die Menschen hineinverfrachtete, führten weit über ihr Leben hinaus. Die Menschen wurden dazu verführt, sich auch in früheren und späteren Leben zu ergründen, als sie noch Ameisen oder Meerschweinchen gewesen waren oder sein würden. Das musste einem erst mal gelingen, dachte Feldberg.
    Sich selbst gestand er eine solche Wirkung nicht zu. Er wusste noch nicht einmal, ob die Begegnung mit ihm Jahre oder nur Monate in den Menschen nachhallte. Er hatte keine Ahnung, wie schnell diese Leute vergaßen, dass sie ihren eigenen Taten und Gedanken misstraut hatten, wie schnell sie verdrängten, dass sie selbst es gewesen waren, die einen Verrat begangen hatten.
    Inez auf der schwedischen Insel wiederzusehen war ihm als eine unverhoffte Gelegenheit erschienen. Die Prüfung am Einzelfall, wie stark sein Einfluss noch wirkte.
    Über all die Jahre hatte er Inez nicht aus den Augen verloren. Er hatte sie im Auge behalten, so wie andere Leute ihren Lieblingsschauspielern die Treue hielten, obwohl sie nur noch Nebenrollen bekamen: Er war auf Abstand geblieben. Er hatte sich nur Eckdaten beschafft; Wohnort, Arbeitsort, den Namen des Mannes, mit dem sie gerade zusammen war. Es hatte ihm genügt, zu wissen, dass er sie jederzeit erreichen konnte.
    Erst durch Tons Kampagne war Inez Rauter wieder stärker ins Visier geraten. Sie war zum Unsicherheitsfaktor geworden. Die Angst vor einem Imageschaden hatte Feldberg diesen lohnenswerten Auftrag eingebracht, einen Auftrag, der es nötig gemacht hatte, ein paar genauere Informationen einzuholen. Feldberg hatte sich eine Vorstellung vom anvisierten Territorium verschaffen müssen: Vorlieben,

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