Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
ins Schleudern. Sie versuchte gegenzulenken und wurde gegen die Armlehne gedrückt, und für einen Moment kam es ihr wie ein Flug vor, ein Weitwurf, der sie aus dem Sitz schleuderte und über den Weg und die Weide hinaus. Es war ein stiller Augenblick. Sie war ohne Angst. Und dann griffen die schweren Reifen wieder, und sie wurde mit einem Ruck zurückgeworfen. Der Traktor richtete sich aus.
    Als sie durchnässt und schmutzig zurückkehrte und den Jungen durch die offene Bürotür sah, war der
Sohn
immer noch vorhanden.
    Schließlich kam sie zu dem Schluss, dass ein Wort erst dann nicht mehr existierte, wenn es keine materielle Entsprechung mehr gab. Das war keine besonders aufregende Erkenntnis. Aber manchmal, dachte Inez, musste man eine Erkenntnis zweimal machen.
    Sie konnte nicht hinübergehen, wo Erik saß und Daten in den Computer schrieb, die ihm nichts sagten, die ihn langweilten, die er nur wegen ihr so geduldig in irgendwelche Excel-Tabellen eintrug, und ihm sagen:
Tut mir leid, aber es könnte sein, dass du aus Versehen mit deiner Mutter geschlafen hast.
Sie konnte nicht zu ihm gehen und sagen:
Jemand macht Witze und will uns in ein archaisches Dilemma verwickeln.
    Sie konnte es nicht einmal zu sich selbst sagen:
Pech, da erwischst du ausgerechnet deinen Sohn!
    Sie zog sich um. Seit der Arbeit in den Felsen sorgte sie dafür, dass immer eine frische Montur im Büroschrank hing. So konnte sie morgens, wenn sie aus dem Freiland kam, gleich an den Computer gehen. Sie breitete den nassen Wattemantel über der Heizung aus. Sie stellte die Gummistiefel auf die Plastikunterlage an der Tür. Sie rief die Praktikantin. »Sonja, könntest du dafür sorgen, dass der Koch rechtzeitig Schluss macht? Ich brauche das Café für ein Meeting. Und sag bitte Guido und Erik Bescheid. Sie möchten um drei drüben sein.«
    Die Erkenntnis, dass ein Wort verschwand, wenn es keine Wirklichkeit mehr dafür gab, hatte Inez schon einmal gemacht. Sie hatte versucht herauszufinden, wer das war,
ihr Sohn
, und es war ihr nicht gelungen.
    Es war ihr gelungen, das Kind zu gebären und die Unterschrift unter den Adoptionsbeschluss zu leisten und einen Schokoladenkeks vom Referatsleiter des Jugendhilfeausschusses anzunehmen. Es war ihr gelungen, das Büro der Jugendhilfe in normaler Verfassung zu verlassen, mit Hilfe einer Analgin, die die Kopfschmerzen dämpfte. Es war ihr gelungen, das ganze Ereignis hinterher als einen körperlichen Ausfall, eine Unpässlichkeit, eine längere Krankheit mit gutem Ausgang zu betrachten.
    Aber es gelang ihr nicht, fünf Jahre später die Adoptionsakte einzusehen. Es gelang ihr nicht, obwohl das Prinzip der Inkognito-Adoption zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte. Mit dem Fall der Mauer, als Panzerschränke und Akten geöffnet wurden, waren auch die Unterlagen über Herkunft und Verbleib von Adoptivkindern auf Anfrage hin zugänglich, wie Inez erfuhr.
    Sie war zum Jugendamt gegangen. Es befand sich noch im selben Gebäude, in dem sie den Adoptionsbeschluss unterschrieben hatte; ein Flachbau. Das alte Schild der Jugendhilfe neben der Eingangstür war mit der neuen Endung -
amt
überklebt worden. Inez ging zur Anmeldung und wies sich aus. Als man sie in ein Wartezimmer schickte, setzte sie sich auf einen der nagelneuen und sehr glatten Holzstühle. Sie legte ihren Beutel auf den Schoß und wartete. Auch nach einer Stunde wurde sie nicht ungeduldig. Sie beschwerte sich nicht. Im Beutel waren das Portemonnaie, eine Sonnenbrille und die Hülle mit den Formularen. Ihr kam der Gedanke, dass sie einen ähnlichen Beutel damals der Stationsschwester übergeben hatte. Er war aus robustem Stoff, und es war leicht gewesen, das Foto im Inneren festzunähen.
    Ihr kam auch der Gedanke, dass sie vielleicht nur hier saß, um den Wahrheitsgehalt des Erlebten zu überprüfen.
    »Sprechen wir zuerst über Sie. Über Ihr Leben«, sagte die Mitarbeiterin, als Inez schließlich aufgerufen wurde. Die Mitarbeiterin trug dasselbe Armband wie vor fünf Jahren. Inez erkannte es wieder; silberne Sterne auf schwarzem Nylon.
    »Ich möchte das Kind nicht zurück«, sagte Inez.
Weg ist weg,
hatte die Mitarbeiterin damals gesagt, nachdem die Unterschriften geleistet waren,
das ist wie mit einem Ziegel, der vom Dach fällt.
»Ich möchte nur eine Information.«
    »Er ist jetzt fünf, nicht wahr?« Die Mitarbeiterin zog ein Blatt aus der Rolle ihrer Schreibmaschine. »Schon ein richtiger kleiner Mann.« Sie legte es vor Inez auf den

Weitere Kostenlose Bücher