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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Probleme, Abneigungen, die altbewährten Methoden, um sich einer Zielperson nutzbringend zu nähern. Daran hielt er fest. Sie waren sein
Kapital
, wie Felix Ton gern sagte. Auch Kontakte von früher waren sein Kapital. Durch einen solchen Kontakt zum Landesumweltamt hatte Feldberg von Unstimmigkeiten zwischen Inez und einem gewissen
Karlsöclubb
erfahren, dem deutsch-schwedischen Trägerverein, der die Insel verwaltete.
    Schon im Frühling hatte Ton darauf gedrungen, den Jungen aufzuklären. Lange vor dem Sommer hätte Feldberg damit beginnen sollen, das Interesse des Jungen an seinem Vater zu wecken, aber Feldberg hatte nicht damit begonnen. Er hatte den Jungen beobachtet, aber immer noch gezögert. Er wusste nicht, wie er ihn ansprechen sollte. Er war auf der Suche nach dem geeigneten Moment gewesen. Er suchte nach geeigneten Strategien. Und als der Junge dann auf einmal nach Gotland aufgebrochen war, hätte Feldberg beinahe an eine Verschwörung geglaubt. Er war kurz davor gewesen sich einzubilden, Inez und der Junge wüssten voneinander oder der Junge hätte etwas von Inez in Erfahrung gebracht. Er hatte sich überrumpelt gefühlt, seine sorgfältigen Vorbereitungen durchkreuzt gesehen, sich selbst von der Operation abgezogen. Ton zog schnell mal jemanden ab. Er war einer, der kurzen Prozess machte. Nicht auf brutale Weise. Hätte er von Feldbergs Versagen Wind bekommen, hätte er ihm einfach jemanden an die Seite gestellt, jemanden, der von nun an die wichtigen operativen Informationen erhalten hätte. Auf eine Beschwerde hätte Ton mit einer Rede über Entlastung und Gewinn geantwortet, und nicht lange, dann hätte ihn der andere vollständig ersetzt gehabt.
    Feldberg hatte sich zusammengerissen. Er hatte sich an seine Maximen erinnert. Eine dieser Maximen war es, sich von der Vernunft leiten zu lassen. Die Vernunft hatte ihm gesagt, dass Inez und der Junge sich nicht kennen konnten. Als Neugeborener hatte er von ihr keinen Namen bekommen. Bei Adoptionen galt die Inkognito-Regel. Inez’ Nachforschungen hatten zu nichts geführt.
    Der Junge musste zufällig in die Gegend aufgebrochen sein, in der Inez sich seit Jahren aufhielt. Die Vernunft hatte ihm auch gesagt, dass jetzt Ruhe zu bewahren war. Die Operation musste in Abweichung vom ursprünglichen Plan durchgeführt werden. Ursprünglich hatte er indirekt auf Inez Einfluss nehmen wollen, ein paar Briefe, ein paar Telefonate, er hatte die volle Unterstützung des Kontaktmannes im Umweltamt. Da sich aber beide Zielpersonen nun in derselben Gegend befunden hatten, war es nötig geworden, sofort aufzubrechen.
    Risk Protection
.
    Feldberg hätte auch mit einem deutschen Namen leben können. Er hatte mehrere Einfälle auf einem Zettel notiert, aber als er diesen Zettel nach Ladenschluss seiner neuen Freundin vorgelegt hatte, hatte sie nur flüchtig darüber hinweggelesen. Sie wollte sich von der
Aura der Worte
leiten lassen, wie sie das nannte, und war von keinem seiner Vorschläge begeistert. Mit der Aura des Wortes
Operation
konnte sie sich am wenigsten anfreunden. Es habe etwas Trübes.
    Für ihn war es das Wichtigste.
    Es war ein zupackendes Wort. Ein tätiges Wort, ein Wort, das den Eingriff ins menschliche Selbstverständnis und die Wirkung zugleich ausdrückte. »Operari, operatio«, erklärte er ihr, »das Wort hat lateinische Wurzeln.« Die substantivische Variante legte etwas nahe, das ihm besonders gefiel: dass hier die Ratio im Spiel war. Was immer diese schwächliche Zeit absonderte an Anschuldigungen und Verleumdungen; das war nicht zu widerlegen. Operative Tätigkeiten waren schon im Wortlaut vom Verstand gelenkt.
    Feldberg hielt viel auf Verstand. Nicht unbedingt auf seinen eigenen, damit hätte er nie geprotzt. Er wusste, dass er gerade mal unterer Durchschnitt war, ein Pragmatiker, der sich die Erklärungen einer höheren Logik bei anderen beschaffen musste. Bei einem der Offiziere oder einem studierten Genossen, manchmal bei den Subjekten, die er verhört hatte, als er noch sein eigenes kahles Büro besaß mit dem Spartakiadewimpel an der Wand. Wenn die Tür geöffnet wurde, schwang der Wimpel leicht an seinem Gummihaken hin und her. Es klang wie ein Streicheln an der Tapete.
    Feldberg hatte die Subjekte, die ihm gegenüber auf der anderen Seite des sauberen Tisches auf ihren Händen saßen, als stünde alles, was es zu verbergen gab, in den Handflächen, operativ behandelt. Sie waren von ihren Holzpritschen geholt worden, die kürzer als ihre

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