Sturz der Tage in die Nacht
der Leute war vorprogrammiert. Bei seinem Anblick würden sie einen schlechten Geschmack im Mund bekommen und ihr Kreuzchen woanders setzen. Wo immer dieser Ekel herkam. Schließlich war es nicht seine Schuld. Was die beiden da trieben, war vielleicht nicht normal, es mochte nicht in den Plan dieser Gesellschaft passen, aber es gab vieles, was nicht in den Plan dieser Gesellschaft passte. Ton bekam da keinen Moralischen. Moral war für Leute, die unfähig waren, sich zu amüsieren. Das war was für diese Schafstypen, die alle außer sich selbst für verkommene Subjekte gehalten und sich selbst disziplinarisch so weit herunterdekliniert hatten, dass sie nicht einmal mehr einen Unterschied machten zwischen Fremdgehen und Mord. Nur weil das Fremdgehen in ihren Reihen öfter vorkam, hatte es in ihren Hirnen die Vorrangstellung auf der Liste der moralischen Vergehen innegehabt und stundenlange Disziplinarverfahren verlangt. Und keiner, der beim Wundsitzen an diesen grauen Sprelakarttischen auch nur mal gegrinst hätte.
Inzest war ein anderes Kaliber. Aber auch das konnte man unter bestimmten Gesichtspunkten durchgehen lassen. Der Junge hatte keine Ahnung, und Inez war eine schöne Frau, und diese schöne Frau schlief mit einer jüngeren Ausgabe seiner selbst. Darum war sie fast zu beneiden. Ein Revival auf einer idyllischen Ostseeinsel, das hätte ihm auch gut in den Kram gepasst. Aber das war nicht das Thema, dachte Felix Ton, drehte sich um, nahm die leere Flasche vom Couchtisch und stellte sie zurück in die Bar. Man musste an das Notwendige denken, für Schöngeistiges blieb keine Zeit. Man musste sich auf das konzentrieren, was anstand, wie Feldberg gesagt hatte.
Dummerweise schien sich das gerade im Morgenlicht aufzulösen. Das rosa Gespinst, das von draußen hereinwaberte, bekam ihm nicht gut. Der Himmel war blass und leer, und Ton kam es vor, als könne er zusehen, wie ihm alles, was anstand, aus den Händen rann, wie es von ihm abtropfte und weggespült wurde, und zurück blieb ein kleiner, verzagter Mensch, der rein zufällig an diesen Ort, in diese Wohnung, in diese Haut geraten war, wo er sich nicht ganz zurechtfand. Ton spürte ihn deutlich. Dieser Mensch rückte ihm auf die Pelle, dehnte sich in ihm aus und drückte ihm die Körperflüssigkeit in die Augen. Es war ein demütiger Mensch, der der Sinnlosigkeit seiner Lage völlig ausgeliefert war, aber gelernt hatte, damit umzugehen, indem er sich Tag für Tag bescheiden der gleichen Aufgabe widmete. Ton konnte was. Er konnte Tische und Regale bauen, das hatte er spaßeshalber schon öfter gemacht, den Beistelltisch neben der Couch hatte er selbst zusammengezimmert und das Schuhregal im Flur, und mit Zahlen kam er auch zurecht. Er könnte einen Laden aufmachen, Käse aus Frankreich oder biologischen Wein verkaufen, er könnte ein Fahrradgeschäft, eine Tierhandlung, ein Reisebüro eröffnen, wenn Feldberg ihn gelassen hätte.
Aber Feldberg ließ ihn nicht.
Feldberg wusste, dass Ton fürs Kleine nicht taugte. Andere mochten solchen Anfällen nachgeben, im Falle Tons waren sie nicht glaubwürdig. Jedenfalls dauerten sie nicht an, ein paar Wochen, und dann würde er ausbrechen müssen, gierig und getrieben, als gingen in seinem Inneren Raketen hoch. Auf seine Weise hatte Feldberg ihn immer vor den Zwängen des Kleinen bewahrt, und Ton spürte eine Welle aus Dankbarkeit, die seinen Hass noch verstärkte.
»Hast du’s bald?«, sagte Feldberg. »Siehst du ein, dass wir beide Glückspilze sind?«
»Erzähl’s mir morgen«, sagte Ton. »Ich bin heute schon überbucht.«
»Sollten die Medien Wind von ihrer Liebschaft bekommen, hätte Inez alle Glaubwürdigkeit verloren!«
»Risk
Protection
, Rainer«, sagte Felix Ton. »Hast du vergessen, dass dein Unternehmen Risk
Protection
heißt?«
Rainer Feldberg
hatte sich diesen Namen nicht allein ausgedacht.
MEGA OPERATION & RISK PROTECTION . So stand es auf seiner Visitenkarte und auf einem weißen Emailleschild an der Tür seines kleinen Potsdamer Büros und am Klingelschild seiner Zweizimmerwohnung in Greifswald. Er hatte sich diesen Namen zusammen mit einer Karma-Beraterin ausgedacht. Feldberg glaubte nicht an Karma. Er verachtete die, die nach dem großen Rückschlag nach Haltegriffen suchten, die mit hängenden Köpfen in die Kirchen rannten, die sie als Jungen so rotzig verlassen hatten, oder zum Quigong. Er hielt sich noch nicht einmal an den Griffen der Straßenbahn fest. Das war seine Art, Standfestigkeit
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