Sturz der Tage in die Nacht
Tisch. »In erster Linie sind wir verpflichtet, dem Wohle des Kindes zu entsprechen, Frau Rauter. Deshalb müssen wir uns versichern, dass Sie verantwortungsbewusst mit dieser Information umgehen.« Das Blatt trug den Adresskopf der Behörde. Sonst war es leer.
»Sie sollten sich Zeit lassen. Füllen Sie das zu Hause aus. Das Wohl des Kindes hat für uns oberste Priorität.«
Inez hatte das Blatt mit nach Hause genommen. Sie hatte ihren Werdegang notiert, die Abschlusszensur der Berufsausbildung, ihr Vorhaben, das Abitur an der Abendschule nachzuholen. Sie hatte noch einmal bestätigt, dass sie die Entwicklung des Kindes nicht beeinträchtigen, sondern nur Gewissheit haben wolle.
»Das hätten Sie besser in Druckbuchstaben geschrieben«, sagte die Mitarbeiterin beim nächsten Mal. »Wenn hier alle mit ihrer persönlichen Klaue ankämen –« Bevor Inez sich setzte, sagte sie: »Danke, Frau Rauter. Sie werden von uns benachrichtigt.«
Die Benachrichtigung blieb aus. Bei erneutem Nachfragen teilte man ihr mit, dass das Blatt verlorengegangen sei. Sie möge bitte so freundlich sein, alles noch einmal aufzuschreiben.
Inez hatte das zweite Blatt mit nach Hause genommen und sorgfältig alles noch einmal geschrieben, diesmal in Druckbuchstaben.
Als man ihr ein drittes Mal ein leeres Blatt mit dem Adresskopf der Behörde gab, war sie damit hinaus auf den Vorplatz getreten. Eine Amsel saß auf dem Rand eines steinernen Papierkorbs. Es war ein heller Tag. Zweiundzwanzig Grad im Schatten. Ein paar weiße Wolkenstreifen gab es sehr weit oben. Inez hatte die Hand geöffnet und das Blatt fliegen lassen.
Das Blatt hatte in der Luft einen schönen Bogen gemacht. Es war vor und zurück geschwungen wie eine Schaukel,
Ende der Sentimentalitäten.
Natürlich hätte man einer Frau, die volljährig war und mit der Inkognito-Registernummer und dem Adoptionsbeschluss auf dem Jugendamt erschien, bedingungslos Akteneinsicht gewähren müssen. Natürlich hätte sie mit ihren einundzwanzig Jahren unter Beschlussregisternummer 34/84 sofort Auskunft über die Adoptiveltern und den Namen des Jungen erhalten müssen. Das wusste Inez.
Aber die Zeit war fiebrig.
Der Grad an Verwirrung, die in den Monaten nach dem Mauerfall herrschte, zeigte sich mit der Wahl einer demokratischen Regierung für einen
menschenwürdigen Sozialismus
im April.
Schon während der Amtseinführung wirkte diese Regierung wie Staffage. Vor dem Hintergrund der
Zwei-plus-Vier
-Gespräche zur Wiedervereinigung, der Abwertung der DDR -Mark beim Umtausch in D-Mark, der Umbenennung von Straßen und Städten des Landes, das nur noch in Metaphern des Zugrundegehens und Ausgelöschtwerdens existierte, verlor sie jede Bedeutung. In gespenstischen Bildern von spachtelbewährten Männern, die Bröckchen aus der Mauer schlugen, manifestierte sich der Abbau der gelebten Wirklichkeit, in Gestalt windiger Versicherungsvertreter zeigte sich die Unsicherheit über die kommende. Ungültig gewordene Abläufe und einst verlässliche Routinen wurden an einem Ort noch planlos aufrechterhalten, während sie andernorts durch Willkür ersetzt wurden oder übermenschliche Anstrengung sie mit wöchentlich wechselnden Anordnungen zu retten versuchte. So passierte in dieser Zeit einiges, was vorher oder nachher nicht hätte passieren können, und was Inez auf dem Jugendamt passiert war, gehörte dazu.
Wenig später fing Inez an, Notizbücher zu führen.
Pirol: Vogel des Jahres
lautete der erste Eintrag. Sie hatte das Buch mit Vogelnamen und Zeichnungen von Schnabelformen und Gefieder gefüllt, und wenn sie später hineingesehen hatte, war es ihr so vorgekommen, als ob sie in diesem ersten Jahr nach der Wende mit nichts anderem beschäftigt gewesen wäre.
Der Pinguintanz der Haubentaucher, die sich bei der Balz Geschenke machen.
Die Geselligkeit der Dohlen.
Die langen Brutzeiten von Nestflüchtern.
Inez schickte die Praktikantin aus dem Zimmer und griff zum Telefon. Sie wählte die Vorwahl von Deutschland. Draußen flog eine Küstenseeschwalbe vorbei. Sie war spät im Jahr. Sie hatte den Aufbruch zum Südpol verpasst. Sie schrie ein hohes, kompromissloses
Kirarr
. Es gab mittlerweile Vögel, die das Klingeln von Mobiltelefonen nachahmten. Dieser hier nicht. Dieser würde den Winter nicht überleben.
Inez wählte Felix Tons Büronummer. Niemand nahm ab. Sie ließ es klingeln. Dann hörte sie, wie sie zu einem anderen Anschluss weiterverbunden wurde.
»Sekretariat Felix Ton, Maja Dengen am
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