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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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dieses Glücks vorbei war. Sie hatte einen Generalschlüssel. Sie würde ungestört sein, so lange es dauerte.
    Sie dachte daran, dass ein Wort keine Entsprechung in der Wirklichkeit brauchte. Das Wort
Tordalke
war nach dem Tod des Vogels noch da. Es würde auch nach dem Tod der letzten seiner Art noch da sein. Es würde vielleicht irgendwann seine Bedeutung ein wenig verschieben, oder es bekam eine neue hinzu. Aber ein Wort klebte nie so dicht an der Wirklichkeit, dass es mit dieser verschwand. Es war stärker.
    Als ihr das Wort
Sohn
aus Versehen in den Sinn kam, brachte es die Erinnerung an einen Neugeborenen zurück.
    Den sie gewollt hatte.
    Den sie nicht gewollt hatte.
    Draußen schwankte die Ostsee.
    Die Ostsee in ihrem bleischweren Grau. Die Ostsee, die sich aufschaukelte. Dieses Brackwasser, das so tat, als sei es etwas Großes, etwas Großartiges, wie Felix Ton gesagt hatte. Und so war es. Die Ostsee hatte ihr geholfen. Die Ostsee hatte sie über die Wehen hinweggetragen. Als die Schmerzen am stärksten geworden waren, hatte sie sich vorgestellt, im Brackwasser der Ostsee zu schweben. Eine Welle nach der anderen war herangerollt, bis die Abstände zwischen den Wellen immer kürzer wurden und Inez das Gefühl hatte, auf den Wellenkämmen zu liegen, mit ihnen hochgehoben und von den Brechern in der Gischt herumgeschleudert zu werden und die Stationsschwester sie anschrie, die Augen aufzumachen und nicht nachzulassen.
    Sie machte die Augen auf.
    Sie registrierte den grellweißen Fleck der Lampe über ihr. Den Mundschutz der Hebamme. Eine Frau und einen Mann hinter der Glasfront. Sie starrten zu ihr hinein. Sie glotzten sie an, wie sie da mit gespreizten Beinen gut positioniert auf dem OP -Tisch lag. Sie wollten sehen, wo das Kind herkam. Sie drängten sich nah an die Scheibe. Die Brille der Frau stieß fast ans Glas. Sie wollten sehen, wie das Köpfchen mit jeder Wehe ein Stück weiter aus ihr herausgepresst wurde und ob ihnen dieses Köpfchen auch gefiel und der kleine blaue Körper, für den sie gleich ein Päckchen Kaffee zum Tausch hinlegen würden, während ihr selbst alles noch wie eine einzige große Flutwelle erschien, bis die Hebamme beruhigend sagte:
Gleich haben Sie es geschafft
.
    Inez hatte keine Lust, diesen Leuten ein Kind zu gebären.
    Sie hatte keine Lust, sich länger anglotzen zu lassen. Sie schob die Hebamme beiseite und stand auf. Aus irgendeinem Grund konnte sie laufen. Sie ging auf die Glasfront zu. Das glotzende Ehepaar verwandelte sich in ihre Eltern.
    Solche Dinge geschahen im Traum. Aber Inez wusste, dass sie nicht träumte. Im Gegenteil. Sie fand es sehr schön, dass ihre Eltern sie besuchen kamen, auch wenn sie sich vielleicht nicht den günstigsten Moment dafür ausgesucht hatten. Ihr Vater öffnete die Tür, wobei er aus Gewohnheit die Türklinke untersuchte. Er nahm ihrer Mutter das Papier ab, das sie zerknüllt in der Hand hielt. Sie hatte es von einem Blumenstrauß gewickelt und wusste jetzt nicht, wohin damit. Im Kreißsaal gab es keine Papierkörbe.
    »Wo habt ihr die denn aufgetrieben?« Inez hatte ihre Eltern lange nicht gesehen. Dass sie sie jetzt wie einen erwachsenen Menschen behandelten und ihr Tulpen brachten, gefiel ihr gut. »Meine Lieblingsblumen. Mitten im Dezember!«
    »Das wächst heutzutage bei uns«, sagte ihr Vater. »Rote Blumen wachsen das ganze Jahr über im Sozialismus.«
    Es war ein wilder Traum, ein Wachtraum, ein Gebärtraum, der von irgendeinem Mittel kommen musste, das man ihr gegeben hatte, einer der Träume, in denen man sich andauernd selbst davon überzeugte, dass es kein Traum sein konnte, weil alles so wirklich schien.
    »Wir brauchen eine Vase«, sagte sie, um der Szene mehr Bodenhaftung zu geben. Aber statt darauf einzugehen, hielt ihr Vater sich das zerknüllte Blumenpapier vor den Mund und pustete. Er pustete den Papierball zu einer Vase auf, und als er zum Waschbecken ging, um Wasser hineinlaufen zu lassen, wurde das Wasser vom Papier gehalten.
    »Das nenn ich einen praktischen Mann«, sagte ihre Mutter. »Ich wünschte, du könntest uns auf diese Weise auch ein Auto herbeipusten. Oder einen Telefonanschluss.«
    »Der Sozialismus sorgt für seine Kinder.« Ihr Vater legte eine Hand auf Inez’ Bauch.
    Es wurde immer verrückter. Inez fragte sich, wo die Hebamme blieb und wann sie wieder mit dem Pressen beginnen sollte.
    »Und wenn du andere Sachen
weg
pusten würdest, wäre das sogar noch praktischer.«
    »Der Wind, der Wind, das himmlische

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