Sturz der Tage in die Nacht
Kind.« Ihr Vater ließ die Tulpen im Papierglas kreisen.
»Den Spleen unserer Tochter zum Beispiel. Die Mauer. Alles, was menschlich ist: Selbstsucht, Feigheit, Gier und Dummheit. Und den Shiguli, der vor unserem Fenster steht.«
»Unsere Tochter kommt ganz nach dir, Maria. Du verlangst Übermenschliches.«
»Wer Glas aus Papier pusten kann, sollte sich nicht unterschätzen.«
»Was für ein Shiguli«, sagte Inez.
»Hör bloß auf mit diesem Shiguli, Maria. Es ist nur zu unserem Besten. Sie passen auf uns auf. Nicht, dass wir aus Versehen wieder Kontakt mit diesem ehemaligen Schüler aufnehmen. Sie wollen uns die Scherereien ersparen. Scherereien halten uns von unserer Tochter fern, verstehst du das nicht.«
So ging es noch eine Weile weiter. Zwischendurch sprangen Lautsprecher an. Eine Männerstimme kam in voller Lautstärke aus den Boxen und schallte über die Gebärenden hinweg.
Wer zurückblickt, sieht Trümmer, ungezähltes Leid, unbeglichene Rechnungen, Widerstreit der Interessen, Misstrauen, auch wohl noch Hass. Unser großer Versuch,
eine Tür schlug zu, jemand rannte eilig durch den Nebenraum, eine Frau schrie,
war und bleibt es, diese Vergangenheit nicht mehr den bestimmenden Faktor unserer Zukunft sein zu lassen –
Die Lautsprecher verstummten.
Dass Inez eine Geburt hinter sich bringen musste, schien niemanden zu kümmern. Also fing auch sie an, sich nicht mehr darum zu kümmern.
Sie wollte gehen.
Sie wollte dieses Krankenhaus endlich verlassen.
Aber sie konnte das Kind nicht nicht kriegen. Sie konnte es nicht wieder in sich hineinbugsieren und zum Verschwinden bringen. Sie hätte Feldberg enttäuscht und das Ehepaar, das Feldberg aufgetrieben hatte, und ihre Eltern, wie sie jetzt erstaunt feststellte, auch.
Die Frau des Ehepaars hatte bereits das Kinderzimmer eingerichtet.
Das hatte ihr Feldberg gesagt. Sie sei eine vertrauenswürdige Dame, hatte er gesagt, sie habe lange auf den Moment gewartet, ihren Antrag schon vor Jahren eingereicht, aber erst, nachdem ihr Mann sich für die Trasse gemeldet habe, sei sie auf der Warteliste nach vorn gerückt. Sie habe interessante Ansichten, nicht völlig ideologiekonform, aber fortschrittlich, sie habe einen guten Leumund, genug Lebenserfahrung und eine Freundin, die zur Not aushelfen könne.
Inez musste es tun. Sie musste diese Sache endlich hinter sich bringen. Sie wollte die lästige Schwerfälligkeit los sein. Sie wollte den dicken Bauch los sein, die Tritte, die Schmerzen, diesen ganzen krankhaften Zustand, den Felix ihr angehängt hatte, sie wollte endlich wieder ihr Fahrrad nehmen, nach Wieck fahren und sich einen Jungen mit schönen Augen suchen, wie andere Mädchen auch.
Die Hebamme war verschwunden. Die Stationsschwester war mit der schreienden Frau beschäftigt. Aber Inez wusste, wie es ging. Sie musste sich nur der nächsten Welle anvertrauen. Sie legte sich rücklings hinein.
Beim Aufwachen saß ihre Mutter am Bett.
»Wo ist er?«
»Es ist vorbei«, sagte ihre Mutter. »Schlaf ein bisschen, mein Kind. Schlaf.«
Die Ostsee vergaß nichts, dachte Inez, während sich der Kühltresen im Café aus- und wieder einschaltete. Jahrelang lagerten die Abfälle auf dem Grund, überwuchert von Algen und Schlick, von angeschwemmtem Sand bedeckt, aber irgendwann wurde es hochgespült, und das, was zu schwer wog, um geborgen zu werden, vergiftete langsam das Wasser.
Diese Gedanken waren genau die, die sie nie hatte haben wollen.
Dieses Pathos.
Diese Schicksalsgläubigkeit.
Sie war kein Brackwasser.
Sie war nicht gestorben. Sie hatte auf Feldberg gehört und ihr Leben beendet, um noch einmal anzufangen. Sie dachte das ohne Bitterkeit. Was immer sein Ziel gewesen sein mochte, was immer er damals für Interessen verfolgt hatte, dachte Inez, es war ihre Entscheidung gewesen. Vielleicht hatte er gar keine Interessen verfolgt. Vielleicht hatte ihm bloß gefallen, wie sehr sie ihn brauchte.
Sie durfte in seiner Datsche übernachten, bis es zu kalt wurde. Sie bekam durch ihn einen Platz in einem Lehrlingswohnheim der Technologie der Landwirtschaft. Sie war kein Lehrling der Landwirtschaft, aber sie wollte nicht zu ihren Eltern zurück. Sie konnte es nicht. Sie wartete noch immer auf Felix, und dafür schämte sie sich. Feldberg kannte den Heimleiter des Wohnheims, und sie bekam ein Zimmer und eine Zimmergenossin, die im ersten Lehrjahr war. Niemand verlangte von ihr, nach Hause zu gehen. Davon, dass ihre Eltern alle Hebel in Bewegung setzten, um
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