Sturz der Tage in die Nacht
noch nicht da. Im Café war es halbdunkel. Der Kühltresen summte. Sie schaltete kein Licht an. Sie nahm sich eine der übriggebliebenen Zimtschnecken und aß sie. Der Wind wurde stärker. Es klang, als würden die Balken über ihr im Dach hin- und hergeschoben. Ständig fegte dieser Wind über die Insel. Er war ein ununterbrochenes an- und abschwellendes Geräusch, bohrte sich in den Kopf, riss die Flügel der Sonnenschirme auf. Er sammelte sich in den Fensternischen und schoß pfeifend die Regenrinnen hinab. Er zerfetzte die Fahne. Er trieb Schmutz den Strand hinauf und ließ das Licht flackern, bis es wie Feuer aussah. Es war unmöglich, frei und ungezügelt zu gehen. Dieser Wind forderte Kraft. Ob er von vorn, seitlich oder als Rückenwind kam; man musste ihm Widerstand leisten.
Manchmal hatte er die unverminderte Stärke der offenen See und brachte die kalten Strömungen über dem Wasser mit. An der Steilwand gewann er an Tempo. Die Bäume boten keinen Schutz. Sie waren zu niedrig. Sobald sie höher wuchsen, wurden sie gedrückt, bis die Kronen wie flache Deckel aussahen. Die Stämme gaben dem Druck irgendwann nach. Sie hielten sich dichter am Boden.
»Lass mich tot sein«, hatte sie damals zu Rainer Feldberg gesagt.
»Ihr Mädchen. Ihr seid solche Übertreiber!«
»Wieso gehst du nicht einfach zu deinem Freund und lässt mich in Ruhe sterben.«
Bis zu einem gewissen Grad war es möglich, sich dem Wind anzupassen. Man nahm ihn als Lebensbedingung hin und gewöhnte sich doch nie an ihn. Auch an windarmen Tagen war Bewegung in der Luft. Unmerklich formten die Ströme die Insel langsam um, kahle Flecken entstanden, wo zuvor hartes Gras gewachsen war. Inez verglich diese Flecken mit den ungeschützten Stellen am Kopf, die schmerzten, wenn sie zu lange ohne Hut draußen blieb. Die Kopfhaut lag frei. Der Wind drückte die Haare beständig von derselben Stelle weg, bis ein eisiger Punkt entstand, an dem eine Nadel ins Innere des Kopfes zu dringen schien, bis sie sich wegducken, wegdrehen, flach auf den Boden legen wollte, wo die schnell fliehenden Schatten Schwindel verursachten.
Nur die Vögel beherrschten den Wind. Das jedenfalls hatte Inez geglaubt. Bis sie sah, wie die Böen einer Trottellumme beim Landeanflug die Flügel wegrissen und der Vogel gegen die Klippen prallte.
Die Tür des Cafés wurde geöffnet. Das Rascheln von Regenjacken war zu hören. Erik kam herein, hinter ihm Guido. Sie redeten nicht.
Erik trug ein graues Sweatshirt mit Kapuze und helle Jeans, die ihm zu groß waren. Er hatte seine Turnschuhe auf diese lockere, aber übertrieben peinlich genaue Weise geschnürt, wie das heute üblich war. Die Schnürsenkel waren breit und sehr weiß. Es waren nicht die richtigen Schuhe für Regenwetter.
»Wir haben eine neue Situation«, sagte sie. »Setzt euch.« Er hatte sich in Visby nur einen Pullover gekauft. Sie hatte vergessen, ihn daran zu erinnern, dass er regenfeste Schuhe brauchen würde. »Der Vereinsvorsitzende lässt nicht mehr mit sich reden. Er ist der Auffassung, ein Naturschutzgebiet ist nicht dazu da, die Menschen zu schützen.«
»Sondern«, sagte Erik.
»Es sollte dazu da sein,
vor
den Menschen zu schützen«, sagte sie steif. »Die Anzahl an Personen, die sich momentan auf der Insel aufhalten, entspricht nicht den europäischen Richtlinien zum Schutz eines SPA . Das hat die Untersuchung ergeben.«
»Ein Naturschutzgebiet sollte die Menschen vor sich selber schützen«, sagte Erik.
»Klar ist, mindestens einer muss gehen.«
Der Regen ging in Hagel über.
»Und dich brauch ich hier noch, Guido.«
Erik saß mit dem Rücken zum Fenster. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. In diesem Halbdunkel konnte es irgendein Junge sein. Es konnte sogar der sein, der es nicht sein durfte, solange er nicht Erik war. Sie sah weder seine Augen noch seinen Mund. Die Schnürsenkel seiner Schuhe leuchteten.
Als sie gegangen waren, sah Inez ihnen vom Fenster aus nach. Guido kehrte sofort zum Museum zurück. Erik blieb vor der Kate aus Felssteinen stehen. Er wirkte unschlüssig. Die Hände hatte er in die Taschen des Sweatshirts gesteckt, die Kapuze war nass und hing schief auf seinen Schultern. Er trat gegen einen Stein und schoss ihn über den Strand. Schließlich drehte er sich um und lief in Richtung Leuchtturm davon.
Inez wollte am Fenster stehen, bis es vorbei war. Bis dieses Glück vorbei war, das erst wenige Wochen gedauert hatte, und bis auch der Schmerz über den Verlust
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