Sturz der Tage in die Nacht
raus.«
»Scheiße, Inez.« Feldberg hängte den Lappen über das Terrassengeländer. »Er sieht ihm auch noch ähnlich!« Er kam auf die Terrasse. Er stellte sich hinter ihren Klappstuhl und legte die Hände auf ihre Schultern.
»Was ich gesagt habe«, sagte er dann, »war, dass du nicht sterben musst, wenn du dein Leben beenden willst. Du fängst einfach noch mal von vorn an. Keine so große Sache. Ich helf dir.«
Und er hatte sich daran gehalten. Er hatte getan, was er konnte, dachte Inez. Er hatte all die Jahre nicht lockergelassen.
»Er hat ihn beschattet«, sagte Inez zu Felix Ton. »Könnte es sein, dass er den Jungen zwanzig Jahre lang
beschattet
hat?«
»Einen Ausreiseantrag?«, sagte Ton. »Ich kapier hier langsam gar nichts mehr.«
»Du kapierst nicht, dass dein Freund zu glauben scheint, wir wären noch immer im Kalten Krieg?«
»Dann habt ihr also doch einen Ausreiseantrag gestellt.«
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Neulich erzählt mir Rainer, einen Ausreiseantrag hat es nie gegeben. Einer von euch lügt doch!«
Inez lachte. »Was hat er denn noch erzählt? Dass er auf der Insel eine Verrückte getroffen hat und eine mutige Tat beging?«
»Schon gut, Inez.«
Sie wickelte die Telefonschnur um ihren Zeigefinger. Sie war kurz davor, Ton zu fragen. Sie hatte ihn angerufen, um ihn zu fragen. Sie wollte ihm eine einzige Frage stellen. Sie wollte endlich sicher sein, ob der Junge im Büro nebenan, der von all dem keine Ahnung hatte, ihr Sohn war oder nicht.
»Feldbergs mutige Tat war es, einem dreißig Jahre alten Vogel den Hals umzudrehen«, sagte sie und zog den Zeigefinger aus der Schnur.
»Schon gut«, sagte Ton noch mal. »Ich hatte eine lange Nacht gestern.«
»Du glaubst gar nicht, wie lang meine Nächte sind.«
»Lass mich sicherheitshalber wiederholen, was du gerade gesagt hast. Du bist einverstanden. Ich kann meinen Sohn einschalten. Ich kann ihm den Weg in eine politische Karriere ebnen. Und alles andere vergessen wir, ja? Wasser unter der Mühle.«
»Ich wäre gespannt, zu wissen, was du ihm sagen wirst.« Inez ließ die Telefonschnur schnippen. »Aber du hast ja inzwischen geübt.«
»Wie kommst du darauf, dass der Junge beschattet wurde?«
»Nur eine Vermutung. Wurde er nicht?«
»Ich weiß nur, dass er anständig groß geworden ist.«
»Na prima.« Sie konnte ihn nicht fragen. Sie konnte sich diese Blöße nicht geben. »Dann weißt du’s ja.«
Ton sagte nichts. Nach einer Weile sagte er: »Danke, Inez.«
»Eins würde ich gern noch erfahren.«
»Immer raus mit der Sprache«, sagte Ton gutgelaunt.
Sie zögerte. Sie sah Eriks offenes Gesicht, sein Lächeln, sie sah ihn neben sich im Bett in Boxershorts, sie sah seinen geschwungenen Rücken, die braungebrannten Arme. Sie sagte zu Ton: »Dein Freund Feldberg hätte diese Reise nicht machen müssen.«
»Wie gesagt, es war nicht meine Idee.«
»Und er hat dir auch erst hinterher davon erzählt.«
»Ganz genau«, sagte Ton und etwas Geschäftsmäßiges kehrte in seine Stimme zurück, ein Tonfall, den er wahrscheinlich gegenüber Pressevertretern und Parteifreunden hatte. »Aber er wird dich in Zukunft in Ruhe lassen. Da kannst du sicher sein.«
»Du meinst Schwamm drüber«, sagte Inez.
»Wie bitte?«
»
Wasser unter der Mühle
. Eine solche Redensart existiert nicht.«
Inez legte den Hörer zurück auf das Gerät. Sie machte das vorsichtig, fast zärtlich, als würde sie vom Telefonhörer Abschied nehmen. Und vielleicht war es so. Vielleicht verabschiedete sie sich. Sie schlüpfte in die dünne Ersatzregenjacke. Regen schlug ihr entgegen, als sie die Tür aufmachte. Sie setzte die Kapuze auf. Es war ein milder Moment, in dem sie aus der Tür trat. Fast windstill. Es gab nichts als heftigen, gerade fallenden Regen. Sie fragte sich, ob das ihr Leben war und ob es bis ans Ende immer genauso aussehen würde: Sie fing etwas an, nur um es dann aufzugeben, wegzugeben, zu verlieren. Sie würde auf eines der Schiffe von
seabirds at sea
zurückkehren oder in die USA gehen. Sie wusste, dass sie das konnte. Sie hatte das gelernt.
Auch Felix Ton fing immer wieder an. Aber ihm schien das besser zu gelingen. Er hatte Zeiten, in denen er gewann. Er hatte die richtigen Freunde. Aus Niederlagen zog er gekonnter Schlussfolgerungen als sie, sie brachten ihm sogar Nutzen, und Inez begriff, dass sie ihr eigenes Versagen nicht zum Phänomen einer Generation oder eines Menschenschlags machen konnte.
Der Junge war
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