Sturz der Tage in die Nacht
unsere Maßnahmen hart vorkommen; sie sind ein Versprechen für die Zukunft. Auch Inez wird den richtigen Weg finden. Da bin ich sicher. In unserem Staat fällt niemand durchs Netz.«
»Handelt es sich um Pfennige?«, fragte ihr Vater. »Oder handelt es sich um fünfzig Mark?«
»Acht Mark fünfundsiebzig«, sagte Inez. »Soviel, wie ein Päckchen Rondo kostet.«
Ihr Vater hörte mit dem Kreisen der Hand auf.
»Man soll niemandem was schuldig bleiben«, sagte Inez. »Eure Rede. Außerdem hab ich’s mir nur geborgt!«
Sie hatte sich das Geld geborgt, um Feldberg ein Päckchen Kaffee zu kaufen. Sie wusste, dass Feldberg Kaffee mochte. Auf der Datsche hatte sie ihn den ganzen Tag Kaffee trinken sehen. Im Schrank über der Spüle verwahrte er vier der teuren, silber-goldenen Päckchen.
»Ich musste mich jemandem erkenntlich zeigen.«
»Du weißt, dass du immer zu uns kommen kannst«, sagte ihre Mutter schließlich. »Egal, worum es geht. Das weißt du doch, oder? Inez! Komm nach Hause.«
»Selbstverständlich werden wir sofort – « Ihr Vater öffnete sein Portemonnaie. Die Direktorin hielt ihn zurück. »Das wird Ihre Tochter selber zu leisten haben«, sagte sie. »Ein Geständnis ist schon mal ein Anfang.«
Sie wurde wieder in den Unterricht geschickt. Als die Stunde zu Ende war, ging Inez sofort zurück zum Direktoriat. Die Tür stand offen. Aber ihre Eltern waren nicht mehr da.
Feldberg versprach, seinen Einfluss bei der Direktorin und der Schulbehörde geltend zu machen.
»Du sitzt dick in der Tinte, weißt du das.«
»Ja«, sagte sie. »Ich reiß mich zusammen. Ich versprech’s.«
»Und das ganze Geheule? Felix, Felix, Felix«, machte er. »Und dieses Geheule wegen dem Kind?«
»Das wird aufhören. Ab heute ist damit Schluss.«
Er gab ihr acht Mark fünfundsiebzig, damit sie das Geld sofort zurückzahlen konnte. Was mit ihren Eltern war, wusste er nicht. Er hielt es für besser, wenn sie erst mal im Wohnheim bliebe. Wenig später traf ein Schreiben vom Kreisschulrat ein. Es enthielt die Nachricht, dass Inez Rauter zur Ablegung des Abiturs an einer Erweiterten Oberschule der Deutschen Demokratischen Republik nicht zugelassen war.
Feldberg war zur Stelle. Er wartete auf dem Sandweg vor dem Haupteingang der August-Bebel-Oberschule auf sie. Er sagte, er habe es durch den
Buschfunk
erfahren, und ging mit ihr in eine Kneipe am Rand der Innenstadt und bestellte Schnaps.
Der Schnaps brannte. Die Frau hinterm Tresen sah sofort, was Sache war, und brachte ihr eine Bulette. Die Kneipe lag in der Nähe vom Schießwall und gehörte zu den Lokalen, die ihre Eltern nie betreten hätten. Lokale, in denen die Gäste schon morgens nach Alkohol rochen.
»Geht das auf deine Rechnung?«, sagte die Frau hinterm Tresen zu Feldberg.
»Seit wann zahlt bei mir die Dame, Uschi?«
»Das Mädel«, sagte Uschi. »Ob du das verbrochen hast.«
Zwei Männer am Nebentisch standen auf. Sie warfen Feldberg einen Blick zu, nahmen schweigend ihre Jacken von der Garderobe und gingen hinaus.
Feldberg sah ihnen hinterher. Dann sagte er gut gelaunt: »Was ist eigentlich mit deinem Großen, Uschi? Haben unsere Leute den wieder auf Vordermann gebracht?«
»Das weißt du doch.« Die Frau hielt den Zapfhahn fest. Das Bier floss über den Glasrand. »
Ich
habe dem Jungen nicht beigebracht, sich die Haare zu färben und die Klotüren im Bahnhof zu beschmieren.
Ich
habe ihn anständig erzogen. Mit dem muss schon in der Produktion was schiefgelaufen sein. Wir sind eine bescheidene Familie. Nie was zu Schulden. Mein Mann rackert sich ab, und dann kommt dieser Bengel und hetzt uns die Vopos auf den Hals –«
»Wenn er wieder draußen ist«, sagte Feldberg, »hat der einen Kurzhaarschnitt. Ohne den ganzen Kleister.«
Inez trank an diesem Tag drei Schnäpse. Danach verschwammen die Einzelheiten.
Lass mich tot sein.
Auch Felix kehrte nicht zurück. Wäre Feldberg nicht gewesen, hätte sie sich ins Bett gelegt und wäre nicht mehr aufgestanden. Oder sie wäre mit den Punks durch die Gegend gezogen, hatte sie später manchmal gedacht, und im Knast gelandet wie der Sohn dieser Kellnerin. Was mit dem Kind geschah, wurde ihr gleichgültig. Feldberg hatte Verständnis. Er arrangierte alles. Er sorgte dafür, dass sie einen Platz in der Facharbeiterlehre zugeteilt bekam. Er meldete Inez im Bezirkskrankenhaus an. Er redete mit dem Stationsarzt. Der Arzt hatte Kontakte zum Rat des Kreises, bei dem eine Namensliste lag. Auf der Liste waren
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