Sturz der Tage in die Nacht
ihr Kind zu finden, hatte sie damals nichts erfahren. Sie erfuhr auch nicht, dass ihren Eltern wegen schlechter Einflussnahme der Kontakt vorläufig untersagt worden war.
Sie ließ sich gehen. Sie hatte angefangen, die Schule zu schwänzen. Sie schwänzte die Pflichtuntersuchungen beim Rat des Bezirkes. Sie hätte sich wiegen und Blut abnehmen und den Bauchumfang messen lassen müssen. Sie schwänzte diese Untersuchungen aus Angst oder weil sie eine Weile so tun wollte, als wäre alles beim Alten. Sie lebte in ihrer Vorstellung. Sie stellte sich vor, Felix könnte für ein, zwei Monate einfach nicht aus Karlshorst weg. Er hätte eine Übung, eine Prüfung, und könnte erst an irgendeinem fernen Wochenende wieder bei ihr sein. Oder sie stellte sich vor, Feldberg hätte ihm ihre neue Adresse verschwiegen, und Felix wüsste gar nicht, dass sie in ein Wohnheim gezogen war, und würde verzweifelt nach ihr suchen. Sie stellte sich vor, sie hätte tapfer auf den Kondomen bestanden und der Lurch, wie sie das Kind jetzt manchmal selber nannte, wüchse nicht in ihr. Sie stellte sich vor, die Schwangerschaft nur geträumt zu haben.
Feldberg konnte verhindern, dass die Jugendhilfe zu ihr ins Wohnheim kam. Er kannte dort jemanden,
keine so große Sache
. Er bestand darauf, sie von nun an in die Poliklinik zu fahren und von der Mütterberatung abzuholen, was eine undankbare Aufgabe war. Jedesmal gab sie ihm danach Anweisungen, wie mit einem Säugling umzugehen war, Anweisungen, die er an Felix Ton weiterleiten sollte. Sie weinte stundenlang. Sie flehte ihn an, sie zu Felix zu fahren, die einzige Bitte, die er ihr jedesmal abschlug.
An einem Freitag, an dem sie ausnahmsweise in der Schule war, wurde sie aus dem Mathematikunterricht geholt. Sie wurde ins Direktoriat gebracht. Dort saßen ihre Eltern. Ihre Mutter hatte verquollene Augen. Ihr Vater sprang auf, aber sie drehte den Kopf weg und setzte sich eilig hin. »Inez wurde bei einer strafbaren und unkameradschaftlichen Handlung erwischt«, sagte die Direktorin. »Als Kassenwart der Solidaritätsbeiträge für unsere Freunde in Angola und Mosambik hat sie eigenmächtig Geld für persönlichen Zwecke entnommen«, sagte die Direktorin. Eine Reihe trockener Kakteen schmückte das Fensterbrett. Dahinter war der Stadtgraben zu sehen. »Aus pädagogischer Sicht hält der Kreisschulrat es für sinnvoll, dass Sie bei dieser Aussprache mit Ihrer Tochter anwesend sind.«
Es waren immer die Freitage, die schwierig waren. Als Inez noch jünger gewesen war, hatte es an Freitagen
Hoppelboppel
gegeben, ein Gericht, bei dem Kartoffeln und Speck in eine Pfanne kamen und mit Ei vermischt gebraten wurden.
Hoppelboppel
hatte die Freitage leichtgemacht.
»Meine Tochter hat im Moment vielleicht einen
Spleen
«, hatte ihre Mutter gesagt. »Das heißt noch lange nicht, dass sie klaut!«
»Meine Mutter nimmt Volkseigentum wörtlich«, sagte Inez leise.
»Erklärst du uns das bitte«, sagte die Direktorin.
»Ich habe mich nicht an privaten Schätzen vergriffen. Also habe ich nichts geklaut.«
»Unser Kind ist in einer schwierigen Phase«, sagte ihr Vater. »Wir möchten Sie um Nachsicht bitten.«
»Ich verstehe das, Herr Kollege. Ich habe mich für Sie stark gemacht, sonst hätte ich Sie heute nicht dazubitten dürfen. Aber Nachsicht mit Dieben gehört nicht zu den Prinzipien einer sozialistischen Erziehung. Wir haben mit Ihrer Tochter schon über das häufige Schuleschwänzen und den Leistungsabfall geredet. Sie zeigt keinerlei Einsicht. Wir sehen uns gezwungen, einen Verweis auszusprechen. Der Kreisschulrat ist von diesem Vorfall unterrichtet, und ich sehe für eine Zulassung zum Abitur leider wenig Chancen.«
Ihr Vater glättete die Tischplatte, die aus einwandfrei faltenlosem Sprelakart bestand.
»Was bei den guten Leistungen, die Ihre Tochter bis vor kurzem noch vorweisen konnte, besonders bedauerlich ist.«
»Um welche Summe handelt es sich?«, fragte ihr Vater.
»Mein Mann möchte wissen, ob es einen Beweis dafür gibt, dass es unsere Tochter war.«
»Ist doch egal«, sagte Inez. »Die schmeißen mich sowieso raus.«
»Ich verstehe Ihre Enttäuschung.« Die Direktorin betrachtete Hans-Christian Rauters Hand. »Als Eltern wollen wir das Gute in den Kindern sehen. Wir vergessen, dass junge Menschen nicht immer in der Lage sind, das Gute von sich aus zu erkennen. Deshalb sind Institutionen wichtig, die sich als neutrale Instanzen um die Erziehung kümmern. Frau Rauter, auch wenn Ihnen
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