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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ist optimierbar. Sie merken, Sie haben mich fest im Sattel eines meiner liebsten Steckenpferde erwischt.« Er umrundete einen Wacholder, der den Pfad an dieser Stelle versperrte. »Natürlich«, sagte er, »ist den Menschen unbedingt ihr Geheimnis zu lassen. Aber gleichzeitig sind ihnen die Informationen über ihre Träume und Vorlieben zugänglich zu machen, wodurch ja das Geheimnis im Grunde erst entsteht. Sie werden sich selbst zum Rätsel, verstehen Sie. Sie rätseln an sich herum, sie werden immer noch mehr über ihre Person wissen wollen, und
das
nenne ich dann nutzbringend eingesetzt.«
    Alles Rekonstruktionsversuche.
    Eine seiner Ressourcen war ich.
     
    Am folgenden Tag kam Inez aus Visby zurück, ich traf sie nachmittags im Museum. Ich hatte schlecht geschlafen. Ich war mehrmals nachts aufgestanden, hatte mir schließlich in der kleinen Gemeinschaftsküche im Leuchtturm ein Brot gemacht und darauf gewartet, dass die Sonne aufging, was sie gegen zwei auch tat. Später war ich doch eingeschlafen und hatte das Zimmermädchen und Rainer Feldbergs morgendliche Geräusche verpasst.
    »Die Trottellumme ist an ihrer Oberseite schwarz, an der Unterseite weiß. Im Winter zieht sich diese weiße Färbung bis auf den Kopf hoch.« Die Jalousien im Vortragsraum waren heruntergelassen. Inez stand vor einer Gruppe von Touristen, einen Laptop neben sich auf dem Tisch.
    »Sie hat eine Länge von 38 bis 45 Zentimetern. Damit ist sie die größte unter den Lummen und die schwerste.« Inez war konzentriert. Gleichzeitig strahlte sie eine Gelöstheit aus, die sie elegant erscheinen ließ, eine Eleganz, die unabhängig von ihrer Kleidung war. »Die Trottellumme ist ein Hochseevogel, der nur zum Brüten Klippen besiedelt. Zum Starten und Landen brauchen die Tiere eine lange Strecke über offenem Meer. Wenn sie von den Klippen starten, machen sie sich die Luftströmungen zunutze.«
    Inez klickte auf die Maus, und auf der Leinwand hinter ihr erschien ein Foto.
    »Auf diesem Bild wird das Missverhältnis zwischen der relativ geringen Spannweite der Flügel und dem schweren Körper der Vögel deutlich. Ihren watschelnden ungelenken Gang an Land hat man öfter mit dem der Pinguine verglichen, was aus wissenschaftlicher Sicht nicht ganz korrekt ist. Und hier«, sagte sie mit einem erneuten Mausklick, »sehen Sie, wie die Jungvögel im Juni von den Brutfelsen springen, noch bevor sie flügge sind. Sie haben einen weichen Knochenbau und überleben die Stürze. Von den Felsen am Ufer aus gelangen sie ins Meer, und dort werden sie von den Eltern weiter betreut.«
    Als Inez sich zur Leinwand drehte, sprang ein Jungvogel von ihrem Wangenknochen.
    »Und wie erkennen die sich?«, fragte ich. »Wie erkennen die in diesem Tumult ihre Eltern wieder?«
    Inez sah zu mir herüber. Sie sagte nichts, als würde sie erwarten, dass die Antwort aus dem Publikum käme, aber das Publikum drehte sich nur zu mir um.
    »Das ist Erik«, sagte sie schließlich in die Runde, »er macht hier ein Praktikum. Und jetzt werde ich Ihnen noch das Brutverhalten erklären, und dann gehen wir ins Freiland.«
    Ich habe mir in diesen Tagen oft vorzustellen versucht, wo Inez aufgewachsen war. Aus welchen Verhältnissen sie kam, welche Freunde sie hatte. Es wäre leichter gewesen, mich ihr zu nähern, wenn mir ein Thema eingefallen wäre, das uns beide hätte interessieren können, aber alles, was sie zu beschäftigen schien, waren die Vögel, und damit kannte ich mich nicht aus.
    »Macht Rainer Feldberg das gleiche Praktikum wie ich?«, fragte ich, als die Gruppe draußen war.
    »Ich musste deinen Aufenthalt irgendwie begründen.«
    »Wieso sollten sich die Touris für mich interessieren?«
    »Die Touris nicht. Aber der Verein, dem diese Insel gehört. Sie ist in Privatbesitz und eines der ältesten Naturschutzgebiete der Welt. Mehr als drei Übernachtungen sind Fremden nicht gestattet. Du bist jetzt schon eine Woche hier.«
    »Rainer Feldberg auch.«
    »Dieser Mann hat eine spezielle Erlaubnis. Er kann so lange bleiben, wie er will.«
    »Was dir nicht besonders zu gefallen scheint.«
    »Ob mir das gefällt oder nicht, spielt überhaupt keine Rolle«, sagte Inez und klappte den Laptop zu. »Erste Amtshandlung deines Praktikums: Jalousien aufziehen, Stühle hochstellen, und dann meldest du dich bei Guido im Büro.«
    »Das ist nicht dein Ernst.«
    »Es ist mein voller Ernst. Du besorgst dir was zu tun. Oder du nimmst heute Abend die Fähre.«
    Inez hatte den Laptop in ihrer

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