Sturz der Tage in die Nacht
hatte, oder ich half den Scouts und der Praktikantin draußen auf ihrem Beobachtungsposten beim Datensammeln. Wir saßen jeweils vier Stunden hinter dem Spektiv und starrten Nester an, die nichts als nackte Felsvorsprünge waren, auf denen ein Ei lag. Die brütenden Vögel trugen nummerierte Farbringe am Bein, und wir schrieben auf, welche Nummer losflog, wann sie wiederkam und wie oft das Pärchen sich beim Brüten abwechselte. Wenn es regnete oder windig war, konnten wir nicht draußen arbeiten, und ich gab das, was wir aufgeschrieben hatten, in den Computer ein.
Erst in der warmen, von Thymian und Wacholderaroma aufgeladenen Luft im Inneren der Insel fiel mir der stechende Geruch auf, den meine Kleider und meine Haare angenommen hatten. Dann suchte ich mir eine einsame Stelle am Strand, wusch meine Kleider und mich, und lag auf den besonnten Felsen, bis sie getrocknet waren.
Den Vogel entdeckte ich unterhalb der Klippen. Von fern sah er aus wie ein kleiner schwarzer Müllsack. Im Näherkommen erkannte ich den verdrehten Kopf, das starre Auge, durch den ein Kondensstreifen am Himmel zog. Sein Gefieder war verklebt, der Schnabel offen,
der Hals hing mir aus den Händen wie ein wasserloser Schlauch
, würde Inez später über eine verendete Tordalke sagen, fassungslos und müde, aber von diesem ersten toten Vogel hatte ich ihr nichts erzählt. Ich hatte den Kadaver mit der Schuhspitze tiefer ins Gebüsch geschoben, bis er unter den Farbwolken des Ginsters verschwand.
Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, wie es begann, dann kommt mir ein Kuss in ihrem Büro in den Sinn, obwohl das nicht stimmt. Ich hatte sie in ihrem Büro nicht geküsst. Ich hatte meinen Kopf ihrem Nacken genähert, und als sie sich umdrehte, hatte ich meine Position nicht verändert, so dass mein Gesicht dicht vor ihrem war.
Inez legte mir die flache Hand auf die Brust. »Zu einem Kuss gehören immer zwei.«
Mein Puls ging hoch.
Sie schob mich zu einem der Bürostühle und ging hinaus.
Das muss im Juni gewesen sein. Sie trug eines ihrer weiten weißen Hemden.
Als sie zurückkehrte, brachte sie zwei Pappbecher Kaffee mit und stellte sie vor uns hin. Sie schien amüsiert zu sein. Sie rollte ihren Bürostuhl neben mich und sah mich an. »Zeig mal deine Hände.«
»Wozu?«
»Wenn du mithelfen willst beim Beringen, wirst du Handschuhe brauchen.«
»Ich hab nicht vor, beim Beringen zu helfen.«
»Nein?« Sie griff nach meiner Hand. »Falls du das noch nicht bemerkt hast«, sagte sie, »ich habe dich unter meine Fittiche genommen. Auf die Gefahr hin, dass du das nicht willst. Und auf die Gefahr hin, dass du gar nicht weißt, was du willst.«
»Ich dachte, hier geht’s um ein Computerproblem.«
»Auf die Gefahr hin, dass ich mit meiner Einschätzung völlig falschliege.«
»Du redest ganz schön hochgestochen.«
»
Bad reputation.«
»Was?«
»Steht auf deinem Shirt. Seit du hier bist, hast du nichts anderes getragen. Wahrscheinlich hast du noch nicht mal deinen Rucksack ausgepackt.«
»Ich bin ein freier Mensch«, sagte ich. »Und zum Campen packe ich nicht den Kleiderschrank ein.«
»Campen?«, fragte sie. »Sind das nicht die Leute, die sich einbilden, sie könnten zum ursprünglichen Leben der Steinzeitmenschen zurückkehren, aber ihr Bier trotzdem aus der Flasche trinken?«
»Das sind die anderen«, sagte ich. »Ich mach’s, weil’s billig ist.«
Sie nickte. »Eine deutliche Neigung zur Verwahrlosung.«
»Schwedische Campingplätze sind das Gegenteil von Verwahrlosung.«
»Deine Hände«, sagte Inez lächelnd, »sind verwahrlost. Aber da lässt sich was machen.«
Sie legte meine Hand nicht zurück. Sie ließ sie einfach so da liegen, in ihrer, als hätte sie sie vergessen.
»Ich bin dir also nicht ganz gleichgültig«, sagte ich und zog meine Hand weg.
»Findest du nicht, dass es zwischen Gleichgültigkeit und einem Kuss einen gewissen emotionalen Spielraum gibt? Um noch so eine hochgestochene Formulierung zu verwenden.«
Inez hatte meine Hand in ihrer nicht vergessen.
Sie erinnerte sich sogar stärker daran als ich. Das sagte sie mir später auf dem Plateau, als wir damit begonnen hatten, einander unsere Versionen der Geschichte zu erzählen, uns die Anfänge anzuvertrauen, aus denen sich unsere Geschichte überhaupt erst entwickeln konnte, als wir davon redeten, wie wir dieses oder jenes empfunden hatten, und der Horizont nachglühte wie jeden Abend, seit sie zu mir kam.
Zwei Impulse waren es, die Inez an
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