Sturz der Tage in die Nacht
nicht gleich beleidigt. Ich wollte Sie nicht in die Irre führen, mein Lieber. Oder nur ein wenig. Nur um herauszufinden, mit wem ich es zu tun habe.«
»Sie hätten auch einfach fragen können, wie ich heiße.«
»Erik, nicht wahr? – Sie haben sich am Fahnenmast doch allen vorgestellt.« Er lächelte. »Ich bin, wie Sie sich sicher schon denken, nicht auf Urlaub hier. Ich habe geschäftlich zu tun. Und da man nicht sehr entgegenkommend ist, würde ich mich gern ein bisschen an Sie halten. Etwas menschlicher Anschluss tut der Seele gut. – Feldberg mein Name.« Er stieß die Hacken zusammen, geriet aber wegen der Felsen ins Taumeln. Dann streckte er mir die Hand hin. »Rainer Feldberg. Ist keine Schnapssorte, auch wenn’s so klingt. Aber vielleicht könnten wir abends immer mal was zusammen trinken?«
Wir standen in den Klippen und gaben uns die Hand, was merkwürdig aussehen musste, schattenhafte Gestalten, die in der Felsöde Förmlichkeiten austauschten. Seine korrekten Hosen, sein weißer, runder Hut, der einen Knick in der Mitte des Schirms hatte, ließen ihn irgendwie hilflos aussehen. Er stand tiefer als ich und musste zu mir hochschauen. Er starrte mich mit seinen graublauen Augen an.
»Klar«, sagte ich und schüttelte seine Hand.
»Das freut mich. Und was macht so ein junger Mann wie Sie hier? Sagen Sie nicht, Sie interessieren sich für Lummen, da könnten Sie mir gleich was vom Elch erzählen.« Er lachte über seinen Witz. »Haben Sie Liebeskummer? Sind Sie Melancholiker? Bergman-Fan? – Sagen Sie bloß! Den Bergman habe ich mal richtig gemocht. Der wusste noch, wie man den Leuten ihr Geheimnis lässt. – Müssen wir hier entlang?«
Man sieht Menschen nicht immer gleich alles an. Man sieht es vor allem nicht, wenn das, was man sehen müsste, die eigene Vorstellungskraft übersteigt, und ich ging damals noch stark von mir selber aus. Ich versah jeden, den ich kennenlernte, mit dem, was ich für meine Eigenschaften hielt. Nicht jeden fand ich sympathisch, dachte aber, dass die meisten Menschen gleichermaßen klug, sensibel und stolz seien wie ich und ebenso selbstbezogen. Heute wirkt diese Selbstbezogenheit niedlich. Sie war unbewusst, und ich wäre nie darauf gekommen, dass sie eine Schwachstelle war.
Vielleicht hatte Feldberg damals schon über Ressourcen gesprochen, Ressourcen, die aufgetan, angezapft, ausgeschöpft werden müssten, Ressourcen, die man nicht genug wertschätzen könne, ein immaterielles Gut, wofür ein besonderes Gespür nötig sei. Vielleicht fing er bei unserem Abstieg davon an.
Er fragte mich, wie ich mein Geheimnis beschreiben würde.
»Welches Geheimnis?«
»Das Wesentliche, mein Lieber. Lassen Sie es mich einfach sagen. Sie sind noch etwas ungefestigt in Ihrer Haltung zur Welt, das ist deutlich. Aber es ist auch Ihr Gewinn. Darf ich raten? Sie sind nicht der draufgängerische, sondern der sensible Typ. Deshalb sind Sie hier.«
»Ich bin hier, weil’s mir im Süden zu heiß ist.«
»Na! So einfach kommen Sie mir aber nicht davon. Behaupten Sie nicht, Sie hätten noch nie ein bisschen weiter gedacht. Das ist ein menschliches Lieblingsthema! Von früh bis spät sind die Leute damit beschäftigt, herauszufinden, wer sie sind. Dafür sind sie Mitglied in Sportklubs, lesen Horoskope oder Schönheitsartikelchen, und besonders gern bereden sie das Geschlechterthema. Ganze Abende werden damit verbracht, darüber zu debattieren, wie Männer sind und wie Frauen sind. Das gibt ihnen eine sichere Verankerung. Nehmen Sie jede beliebige Kultur, jede Gesellschaftsordnung. Nehmen Sie die Kommunisten oder die Konsumisten –« Wieder lachte er über seinen Witz. »Es geht immer nur um eines: die Bestätigung des Ich. Und soll ich Ihnen was verraten? Das ist so, weil dieses Ich gar nicht existiert. Weil es ein Hirngespinst ist. Eine Behauptung. Aber wenn Sie wollen, reden wir nicht über Sie, reden wir über Inez. Was sagen Sie zu der?«
Vielleicht hörte ich ihn auf unserem Abstieg durch die Felsen zum ersten Mal von
Ressourcenallokation
reden, eines seiner Lieblingswörter, davon,
das Wenige, was man hat, nutzbringend einzusetzen.
»Die meisten vertrauen dem, was der Zufall bringt. Wenn die Leute aber vom Zufall reden, wenn sie sagen, etwas wäre zufällig passiert, dann sagen sie etwas darüber, was sie erwartet haben und dass diese Erwartungen nicht eingetroffen sind. Das sind wichtige Informationen. Da zeigen sich Einstellungen, Träume, Vorlieben. Und dieses Ergebnis
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