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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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diesem Vormittag im Büro verspürte, sie waren gegensätzlich und gleich stark, und sie hatte keinem von beiden nachgegeben, um ihr inneres Gleichgewicht nicht zu verlieren.
    Einerseits wollte sie mir Arbeitshandschuhe heraussuchen und mich damit zu Guido schicken. Guido sollte mir zeigen, wie man den Vögeln die Beringung anlegt. Denn meine Hand in ihrer schien auf einmal eine Nähe herzustellen, die Bekenntnisse erfordert, Bekenntnisse darüber, ob man gern oder ungern ein Teenager gewesen ist, welche Getränke man gemocht oder verabscheut hat, ob man verheiratet ist oder nicht oder daran denkt zu heiraten, ob man Kinder hat oder gern welche hätte, ob man schon einmal geliebt worden ist oder geliebt hat und betrogen wurde und welche Risse und Narben es zu umschiffen gilt, all das, was man sich als Unterpfand dafür gibt, einander zu vertrauen.
    Sie aber hatte mit all dem ihren Frieden gemacht, wie Inez das ausdrückte. Sie hatte aufgehört, auf diese Weise über sich zu reden.
    Sie hatte akzeptiert, dass das in solchen Situationen Befremden auslöste und ihr danach mit Kühle oder Misstrauen begegnet wurde, selten mit Respekt. Das war der Preis, von dem sie annahm, dass sie ihn für diesen Frieden zahlen müsse, und ich bin nicht sicher, ob sie das heute nicht wieder so sieht.
    Andererseits mochte sie meine Hand in ihrer. Sie gestand mir später auf dem Plateau, wie sehr sie von dem leuchtenden Haar auf der viel dunkleren Haut, das im schräg einfallenden Vormittagslicht schimmerte, angezogen gewesen war. Sie konnte sich sehr genau daran erinnern, wie sie auch dem zweiten Impuls widerstanden und meine Hand nicht gestreichelt hatte.
    Sie suchte mir Arbeitshandschuhe heraus. Sie machte den Vorschlag, zusammen in die Felsen zu gehen. Sie drückte mir den Werkzeugkasten in die Hand.
    »Du musst diese Vögel aus der Nähe sehen, Erik! Sonst weißt du nicht, wozu diese Datensammelei gut ist. Passende Schuhe hast du diesmal an. Alles andere findet sich.«
    Inez legte den Kletterharness an, nahm Spektiv und Teleskopstange. Es war ein windstiller Tag. Die Sonne hing verborgen hinter Wolkenschleiern. Wir stiegen hinauf zu der Stelle, an der ich in der ersten Nacht in die Klippen gelaufen war. Links fiel eine große Felsplatte mehrere Meter ab. Inez ließ mich am bemoosten Ende der Platte das Spektiv aufbauen und klinkte sich am Sicherungsseil ein, das an Ösen in der Platte befestigt war. Sie schob die Teleskopstange auf ihre ganze Länge von vier Metern aus. Dann ließ sie sich Schritt für Schritt am Seil hinab. Sie versuchte, dem Nest, das sich unterhalb der Platte befand, so nah wie möglich zu kommen. An der Spitze der Stange war ein Haken angebracht. Inez näherte die Stange dem Felsvorsprung und legte den Haken vorsichtig um den Fuß eines Vogels, angelte ihn aus dem Nest und holte ihn zu sich heran. Das erschrockene Tier versuchte wegzufliegen und flatterte einen kurzen Moment auf der Stelle mit den durchdrehenden Flügelschlägen einer Comicfigur.
    Ich stellte das Spektiv scharf, sah dann aber am Spektiv vorbei zu Inez hinüber. Ich wollte nicht den ins Verschwommene vergrößerten Ausschnitt sehen, sondern sie, wie sie da stand, einen Fuß vorgesetzt, das Sicherungsseil an der Hüfte, in den Händen die Stange, die über die Felskante hinausragte. Es war das erste Mal, dass ich sie so bei der Arbeit sah, hochkonzentriert und gelöst. Der unsichere Stand und das Gewicht der Stange schienen ihr nichts auszumachen. Ruhig holte sie den Vogel näher. Sie befreite seine Kralle aus dem Haken und hielt den Körper schützend an sich gedrückt, während sie die Stange zu Boden legte. Sie hakte den Beutel vom Harness los und wickelte den Vogel behutsam in den bunten Stoff. Ich hörte sie leise auf das Tier einreden, als sie zurückkam.
    »Du bringst mir Glück, Erik«, sagte sie. »Das ist Friederike. Sie wurde vor dreißig Jahren auf dieser Insel beringt.«
    »Hat sie dir das gesagt?«
    »Natürlich. Hältst du mal?«
    Es war schwierig, den Beutel ruhig zu halten, in den das Tier verfrachtet wurde. Die Handschuhe ließen die Fingerkuppen frei, sodass man ein besseres Gespür für jeden Griff hatte. Aber das Tier fing sofort an zu kämpfen.
    »Ich habe gehofft, dass sie wiederkommt. Aber man weiß nie. Und jetzt sah es fast so aus, als hätte sie auf mich gewartet. Sie hat sich denselben Vorsprung gesucht wie im letzten Jahr.«
    Der Kopf musste in eine Ecke gesteckt und der Beutel eng um den Körper gewickelt werden, so

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