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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Ledertasche verstaut, war zur Tür gegangen, und als ich noch überlegt hatte, ob ich das als Rausschmiss oder als Angebot verstehen sollte und ihr hinterher rief: »Ich bin doch nicht zum Arbeiten hier!«, war sie bereits an der Spitze der Gruppe zwischen den Wacholderbüschen verschwunden.
    Ich hatte in diesen ersten Tagen versucht, mir vorzustellen, wo sie herkam, aber kein einziges Mal hatte ich mich gefragt, was sie an dieser Insel anziehend fand. Seit drei Jahren war sie hier. Im Sommer wechselten häufig die Scouts, im Herbst blieb sie allein, im Winter zog sie in eine Wohnung in Visby. Ich hatte mich auch nicht gefragt, ob es wirklich ihre Forschungen waren, die sie hielten, oder ob diese Forschungen nur ein Vorwand waren,
eine passende Notwendigkeit,
die einem
schon einfallen wird,
wie sie anfangs gesagt hatte.
    Ich weiß jetzt, dass ihr die Anwesenheit Rainer Feldbergs nicht nur
nicht gefiel
. Gefallen oder nicht waren die falschen Kriterien, um ihre Gefühle zu beschreiben. Gefallen oder nicht, das war viel zu schwach, um zu erklären, was in ihr vorging, als sie Rainer Feldberg an jenem Junitag von der Fähre kommen sah.
    Sie habe ihn über den Kai laufen sehen, erzählte sie mir später, als sei er der einzige Passagier gewesen. Sie habe sein vom Schweiß dunkles Haar gesehen, seine abgewetzte Arzttasche. Sie habe etwas gebraucht, um sich festzuhalten, und nach meinem Arm gegriffen.
    Sie hatte nicht nach meinem Arm gegriffen, weil der Kai schmal war. Sie fasste nach mir, als ihr klargeworden war, dass mit dem Auftauchen Rainer Feldbergs der Grund, auf Stora Karlsö zu sein, hinfällig wurde.
    »Jemand hier, der kein Schwedisch kann?«, hatte sie vor dem Fahnenmast in die Runde gefragt. Rainer Feldberg konnte kein Schwedisch. Rainer Feldberg hatte aber nichts gesagt, er hatte nur einen Mundwinkel hochgezogen und die Hände langsam in die Hosentaschen geschoben. Er habe andeuten wollen, dass sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen müsse, sagte Inez zu mir, dass sie ihn mit so einem einfachen Trick nicht loswerde.
    Das weiß ich jetzt. Ich weiß auch, warum Inez am Anfang so freundlich zu mir war, warum sie mich einlud zu bleiben. Sie wollte mit diesem Mann nicht allein sein. Sie wollte, dass außer ihm noch jemand blieb, wenigstens in der ersten Nacht, nur deshalb nahm sie mich mit auf die Klippen.
    Sie wollte ihn nicht wahrhaben.
    Normalerweise hätte ihr das Schwierigkeiten gemacht. Es widersprach ihrer systematischen Art, Probleme anzugehen, Ereignisse, die sie betrafen, von allen Seiten zu betrachten, nicht der erstbesten Antwort zu trauen, sondern nach den Ursachen zu forschen. Ihr erster Impuls wäre es gewesen, sich mit einer Thermoskanne Kaffee in die Felsen zu setzen, weit oben, auf der den Vogelkolonien abgewandten Seite und ihren Ängsten auf den Grund zu gehen. Aber sie versagte sich das. Sie hätte zurückschauen müssen. Sie hatte schon lange, bevor sie auf diese Insel gekommen war, versucht, nicht mehr zurückzuschauen. Aber erst hier war ihr das zum ersten Mal wirklich gelungen, wie ich heute weiß.
    Als sie Rainer Feldberg von der Fähre kommen sah, war sie längst ein anderer Mensch.
    Sie hatte den Laden dichtgemacht, wie einer der Scouts zu mir sagte.
    Kaltes Herz und schmutzige Hände, das Gegenteil eines Tschekisten
, wie Rainer Feldberg zu einem späteren Zeitpunkt sagen würde.
     
    Wie schwierig es ist, beim Zurückschauen chronologisch vorzugehen, wird mir erst jetzt klar, im Schwanken der Fähre, mit Blick auf die Strudel, die die Schiffsschraube auswirft und hinter uns lässt, da ich nicht mehr auf den Tag oder die Woche genau sagen kann, wann jeweils das eine oder andere geschah.
    Beispielsweise kann ich nicht mehr sagen, wann ich den ersten toten Vogel fand.
    Es könnte noch im Juni gewesen sein, an einem dieser sonnengesättigten Tage, als ich das Gefühl hatte, Inez ginge mir aus dem Weg. Ich versuchte, mich an das Geschrei der Lummen, der Tordalken und Möwen zu gewöhnen, an die schrillen Echos in den Felsen, die anschwollen mit jeder Landung, bei der die Tiere brachial in die brütenden Artgenossen hinein krachten, an das aufgescheuchte harte Flattern. Nur langsam begann ich den Geruch zu vergessen, den Kot und die Federn überall, den am Ufer angeschäumten Schlick, der nach Fisch und nach der Fäulnis unterm Blautang roch. Ich machte die einfachen Arbeiten. Ich räumte das Büro auf, säuberte Hängewaagen von der Salzschicht, die sich auf dem Display abgesetzt

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