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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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dass die Beine aus der Öffnung ragten.
    »Vorsicht«, sagte Inez. »Beim letzten Mal ist sie entwischt. Sie hat es mir nicht erlaubt, den Ring anzubringen. Aber zu zweit könnten wir es schaffen.«
    Der Vogel versuchte, sich mit aller Kraft frei zu flattern. Unter den Federn spürte ich das hektische Pulsieren des Blutes. Einmal traf mich der Schnabel. Die Narben des Schnabelhiebs sind auch jetzt noch da, weiße Streifen unterhalb der Fingernägel, und ich wünschte, sie blieben für immer. Als das Tier endlich im Beutel verstaut war, lag es zunächst ruhig. Inez zeigte mir, wie der Tarsus gemessen und der Farbring mit der Zange aufgeklemmt und um das Bein gebogen wurde.
    »Siehst du die schöne Zeichnung des Schnabels? Sie ist ein besonderes Exemplar. Letztes Jahr hat sie mich aus der Ferne beobachtet. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie würde mich lesen. Als würde sie mit mir das machen, was ich eigentlich mit ihr vorhatte. Sie behielt mich im Blick. Aber sie ließ mich nie wieder näher heran.«
    Der Vogel blieb ruhig. Sein Körper füllte den Beutel, er hatte kaum Gewicht, die Vogelfüße ragten aus der Öffnung. Ich versuchte, dieses Gewicht so vorsichtig wie möglich zu halten, um nichts zu knicken oder abzubrechen, und nach einer Weile dachte ich, ich hätte ihn vielleicht längst erstickt. Aber da fing die Alke an, mit dem Kopf zu rucken. Sie drückte von innen so stark gegen den Stoff, als wolle sie sich mit dem Schnabel voran durch den Beutel stoßen.
    »Sie sind gar nicht groß«, sagte ich gepresst. »Wenn man sie so in der Hand hält.«
    »Sie sind sehr muskulös«, sagte Inez. »Ihre Kraft steckt in den Flügeln. Das nützt ihnen beim Tauchen.«
    Das Stoßen wurde stärker, der Körper drängte gegen meine Hände, wand sich, versuchte, der Umklammerung zu entschlüpfen, gleich würde die Alke die Flügel aufklappen, den Gummizug am Beutel lösen, und ich hätte ein Tier vor der Brust, das den Schnabel aufriss, mich ins Visier seines reglosen Zerrspiegelauges nahm und mir ins Gesicht hackte.
    »Festhalten«, sagte Inez.
    »Ich glaube, sie findet es nicht mehr so toll.«
    »Gleich fertig.« Inez brachte den Farbring am linken freien Fuß der Alke an. »Gut gemacht.« Sie nahm mir den Beutel ab, hielt ihn einen Moment leicht an ihren Körper gedrückt und flüsterte der Alke etwas zu, das ich nicht verstand. Dann hielt sie den Beutel von sich weg und ließ den beleidigten Vogel frei. »Da hat sie schon so viel gesehen im Leben«, sagte Inez. »Aber ihre Empörung lässt nicht nach. Die Empörung ist noch genauso groß wie bei einer jungen.«
     
    Im Juni wurde es auch nachts nicht dunkel. Über Felsen und Meer hing ein leuchtendes, tiefblaues Licht. Man konnte nicht sagen, ob die Sommernacht je begann, oder nur der Tag in einen neuen Tag hineinfloss. War die Sonne gegen Mitternacht hinter der Linie des Meeres verschwunden und ihr Schatten flutete noch rot über den Himmel, ging sie gegen zwei schon wieder auf. Das Licht machte mich schlaftrunken, wenn ich wach war und halbwach, wenn ich schlief.
    Oft lag ich schlaflos dem nächsten Morgen entgegen, immer wieder vom Schrei einer einzelnen Lumme aufgeschreckt, die, von einem fallenden Felsbrocken gestört, ihren Angstruf ausstieß, der auf andere Vögel übergriff, zu einer Welle wurde, die die gesamte Kolonie erfasste und erst nach einer halben Stunde schwächer wurde und verebbte, langsam wie eine herunterfahrende Sirene. Schlaflos lag ich bis zum nächsten langen Tag.
    Ständig war ich erregt.
    Ich stand mit meiner Erregung in der Gemeinschaftsdusche des Leuchtturms und verschaffte mir Erleichterung. Oder ich suchte mir eine abgelegene Stelle am Ufer. Manchmal ging ich weit in die Schafsweiden hinauf. Ich machte es zwei-, dreimal am Tag, und meine Hand gehörte jedesmal Inez.
     
    Rainer Feldberg sah ich in diesen Tagen häufig. Er lief mit seiner Arzttasche vor den Bürofenstern vorbei, er saß im Museumscafé vor Papieren, er schlenderte mit Guido am Strand entlang. Sie schienen sich gut zu unterhalten. Ich sah, wie Feldberg ihm den Arm um die Schultern legte und wie Guido den Kopf in den Nacken warf und lachte.
    »Was ist das eigentlich für eine Erlaubnis, die Sie haben«, hatte ich zu Feldberg gesagt, als ich ihn morgens in der Küche im Leuchtturm beim Teemachen traf.
    »Na?«, sagte er. »Läuft alles zu Ihrer Zufriedenheit? Sie sind ja sehr beschäftigt. War das Vogelscheiße, die Sie da neulich vom Dach geschrubbt haben? Macht ja nichts.

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