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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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grellweiß.
    »Ist dir schwindlig«, sagte meine Mutter, »dann setz dich lieber hin.«
    »Mir ist nicht schwindlig.«
    »Mach es dir nicht so schwer, Erik.«
    »Nein«, sagte ich. »Ich mach’s mir nicht schwer.« Ich öffnete die oberen Hemdknöpfe. Dann nahm ich das Foto vom Bett. »Das ist sie, ja?«
    »Das Foto war bei den Babysachen.«
    »Woher weißt du, ob das stimmt?«
    »Man kann heute alles überprüfen.«
    »Hast du’s?«
    »Nein. Ich meinte, du kannst es überprüfen, wenn du Zweifel hast.«
    »Man sieht überhaupt nichts. Keine Ähnlichkeit.«
    »Auf dem Bild ist sie sehr jung.«
    »Und wo hast du das her?«
    »Es war in dem Beutel mit Sachen, die sie für dich eingepackt hatte.«
    »Was für Sachen?«
    »Eine rote Babyklapper. Zwei Strampler.«
    »Zwei Strampler«, sagte ich.
    »Sie sind im Keller. Ich habe sie für dich aufgehoben.«
    »Danke. Ich werde sie unter Glas legen.«
    »Sei nicht albern.«
    »Ich werde sie unter Glas legen und ein Schild dranhängen: hier ruht mein richtiges Leben.«
    »Lass dir Zeit, Erik.«
    Das Mädchen auf dem Foto schaute zu mir hoch. »Hast du dir mal angeguckt, wie die aussieht«, sagte ich. »Mit
der
Frisur hätte ich mich vor meinem Kind auch nicht blicken lassen!«
    »Erik.« Meine Mutter strich mir über die Wange.
    »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln!«
    »Da auf dem Foto, das ist irgendein Mädchen. Die für ihr Leben nicht die Verantwortung übernehmen wollte.«
    »Das da ist die Frau, die für mein Dasein verantwortlich ist!«
    Die Nachttischschublade hatte offen gestanden, und die ganze Zeit war dieser Duft ausgeströmt, Holzleim, Leder und Papier.
    »Für dein Dasein«, sagte sie und nahm mir das Foto aus der Hand, »habe ich gesorgt, mein Lieber. Vergiss das nicht.«
    Ich hatte es nicht vergessen. Zuerst taten wir beide so, als hätte es das Foto nie gegeben. Ich bemühte mich, ihr zu zeigen, dass unser Verhältnis so war wie zuvor, liebevoll und uneingeschränkt offen, und sie ging noch stärker als sonst auf mich ein. Vielleicht spürte sie, dass ich unterhalb meiner Anstrengung in Abwehrhaltung war, dass ich diese Wendung in meinem Leben nicht wollte und doch gezwungen war, sie hinzunehmen. Vielleicht hatte meine Mutter auch Angst um sich selbst. Sie hakte sich auf der Straße bei mir ein, sie strich mir in der Kaufhalle vor allen Leuten übers Haar. Abends wollte sie Kinderfotos mit mir ansehen. Meine Laune verschlechterte sich. Ich wurde wütend. Ich fuhr meine Mutter wegen Kleinigkeiten an. Oder ich redete nicht mit ihr. Manchmal tagelang. Ich wusste, dass sie sich schuldig fühlte, dass sie versuchte, einen Fehler, den sie nicht begangen hatte, wiedergutzumachen, was meine Wut noch steigerte. Eines Tages fragte ich sie höhnisch, ob sie nur fremder Leute Kinder erziehen könne, was mir heute noch leidtut, rannte ins Schlafzimmer und zog demonstrativ die Schublade auf, wo das Foto immer noch lag.
    Eingepfercht steht sie zwischen Papierkorb und Tür, der Blick geht in die Ferne. Kinn und Wangenknochen sind scharf konturiert. Ihre rechte Hand greift nach dem offenen Kragen.
    Der Geruch aus der Schublade beruhigte mich. Jedesmal, wenn ich die Schublade wieder schloss, dachte ich, Annegret hatte recht; die Frau war eine Fremde, und es spielte keine Rolle, wer sie war, und nach ein paar Tagen ging das Spiel von vorn los, und eines Tages hatte ich die Schublade offen gelassen und zu Annegret gesagt, dass uns das kaputtmachen würde, dass ich etwas unternehmen müsse.
    »Mein Sohn interessiert sich ausgerechnet für die Frau, die ihn nicht wollte?«
    »Ist das so unvorstellbar?«
    »Du warst gerade ein paar Tage alt. Du kannst dir da gar nichts vorstellen.«
    »Ich könnte sie fragen, warum sie mich nicht wollte.«
    »Sie kann in einer Zwangslage gewesen sein oder krank. Sie war überfordert.«
    »Du weißt es nicht. Aber du nimmst sie in Schutz.«
    Meine Mutter hatte mir die Hand auf den Arm gelegt, und als ich nicht reagierte, hatte sie die Hand wieder weggenommen. Sie war aufgestanden, hatte die Jacke von der Flurgarderobe genommen. Bevor sie die Wohnung verließ, hatte sie gesagt: »Wenn du zum Jugendamt gehst, vergiss deinen Ausweis nicht.« Sie war in dieser Nacht nicht zurückgekehrt.
    Ich wusste, dass ich die Frau, die für mein Dasein verantwortlich war, finden würde, früher oder später würde sie mir begegnen. Damals dachte ich das so: für mein Dasein verantwortlich. Eine Weile spielte ich tatsächlich mit der Idee, zum Jugendamt zu

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