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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Anzeige hier die Rede sein könnte.‹«
    Inez hatte mir die Rauschpflanzen, von denen in der Anzeige die Rede gewesen sein konnte oder nicht, gezeigt. Auf der Brachfläche, die hinter den Schafweiden begann, wuchsen massenhaft krautige Büsche, keiner davon höher als einen Meter, die Blütezeit war vorbei, und unter den Blättern hatten sich kleine grüne Beeren entwickelt.
    »Ich habe mal nachgeschlagen«, sagte Inez, »das Atropin in der Tollkirsche verursacht Realitätsverlust. Die Pupillen weiten sich, was zur Lähmung des Ziliarmuskels, also zu erheblichen Sehstörungen führt. Zehn Beeren lösen bei Erwachsenen Tod durch Atemlähmung aus. Insofern war die Anzeige nicht unbegründet. Man nennt sie auch Schlafkirsche. Oder Irrbeere. Allerdings betreibt der Kalkboden den Anbau der Tollkirschen ganz von allein.«
    »Wahrscheinlich hatte der Anzeigenerstatter selber welche eingeworfen!«
    »Ganz sicher nicht.« Inez pflückte eine Beere vom Strauch. Sie roch daran. »Es ging auch nicht um den Inhalt der Anzeige, Erik.«
    Ich pflückte auch eine Beere. Sie roch nach nichts. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich bei dir nie ganz mitkomme.«
    »Das kenne ich«, sagte Inez. »Alle anderen wissen Bescheid, nur du nicht.«
    »Und warum habe ich ausgerechnet bei dir dieses Gefühl?«
    »Weil dir da ein Stück Realität fehlt.«
    »Du meinst, ich hab ein paar Beeren eingeworfen?«
    »Die Realität dieser Leute, die so eine Anzeige erstatten, ist nichts, was ich an deiner Stelle vermissen würde«, sagte Inez und schnippste ihre unreife Irrbeere weg.
    Es war nicht um Rauschpflanzen gegangen, wie ich heute weiß. Es war darum gegangen, eine Abmahnung des Vereins, adressiert an Inez Rauter, in der Post zu haben, wo sie wenigstens einer der Scouts zu Gesicht bekam, am besten Guido, der diese Post jeden Mittag auf die Bürotische der Mitarbeiter verteilte.
     
    Abends lag ich bäuchlings auf dem Bett. Ich hatte mir das Neue Testament, das in allen Zimmern im Nachttisch lag, als Schreibunterlage geholt und schrieb Postkarten an Annegret. Ich hatte ihr bisher nur eine SMS geschickt mit Grüßen von der Vogelinsel und einem Bild vom hellen Mitternachtshimmel. Ich wollte ihr erklären, warum ich nicht wie geplant Mitte Juli zurück sein würde. Ich wusste, dass sie wartend zwischen Umzugskisten saß. Ich versuchte, logisch zu klingen, vernünftig zu klingen, so zu klingen, wie es von mir zu erwarten war, wie sie mich kannte und erzogen hatte. Auf mich war Verlass. Wenn ich nicht pünktlich zurückkam, musste es einen guten Grund dafür geben, und ich lag da und mir fielen viele Gründe ein, keiner davon war gut. Ich kam mir weder vernünftig noch logisch vor, weshalb ich sie auch nicht anrufen konnte, am Telefon hätte sie mein Zögern bemerkt, hätte sofort gewusst, dass die zurechtgelegten Sätze nur ein Ausweichen gewesen wären, ein Ausweichen vielleicht vor mir selber. Wenn ich ihr jedoch schrieb, so bildete ich mir ein, wenn da erst mal eine Anrede stand, würde sich der vernünftige Tonfall schon einstellen und mit dem Tonfall die
passende Notwendigkeit
, wie Inez sagen würde. Ich schrieb ihr vom überraschenden Angebot eines Praktikums. Vom Geschrei der Vögel. Von der Tordalke und ihrer weißen, markanten Rille im Schnabel. Klein und fast unleserlich schrieb ich hinter meine Unterschrift:
Hab jemanden kennengelernt.
    Ich las die Karte noch einmal durch, und mir fiel ein, dass meine Mutter diese Art von Postkarten schon einmal bekommen haben musste,
ich bleib noch ein bisschen hier
oder
warte nicht auf mich
oder
komme später
hatte auf diesen Karten gestanden, Karten mit russischen Briefmarken, abgeschickt in Urengoi, in Sosnowo, in Serpuchow, als sie schon keine Briefe mehr erhielt, nur noch die Karten. In einem der letzten Briefumschläge hatte ein Foto gesteckt; ein nackter Mann, der in der Schaufel eines Baggers saß. Die Schaufel hatte dieselbe Farbe wie seine Haut, sie war hellbraun. Die kleine Gestalt war in der Krümmung der Schaufel kaum zu erkennen. Es sah aus, als wären ihre Gliedmaßen in sie hineingesackt, obwohl der Mann sich zu einer Bewegung hochreckte, die ein Winken sein konnte. Vielleicht rutschte seine Hand auch nur an der glitschigen Schaufelwand ab. Wasser rann an den Seiten herunter. Die Schaufel schwebte über einem See oder einer Grube, am Rand lag Schutt.
    Mit diesem Bild war ich aufgewachsen. Das nackte Männlein, das in einer Schaufel hockte, war der, von dem ich alles hatte, was nicht

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