Sturz der Tage in die Nacht
in die Familie zu passen schien.
Die gleichen Augen, das gleiche blonde Strubbelhaar, auch der Sturkopf vom Vater und die Lust an Zahlen und Mathematik
, wie meine Mutter sagte. Sie hatte schnell verstanden, warum ich mit fünfzehn Anzüge zu tragen begann. Ich wollte nicht mehr mit diesem Nackten verglichen werden. Dass auch ich ihr jetzt nur noch Postkarten aus der Ferne schrieb, würde nicht so einfach zu verstehen sein.
Sie hatte seine Karten in der Nachttischschublade verstaut. Es war verboten, die Schublade zu öffnen, aber als Kind hatte ich den Duft, der aus der Lade kam, geliebt. Es war ein Duft nach Holzleim, Leder und Papier. Manchmal hatte ich die Schublade heimlich aufgezogen, immer eilig, immer ängstlich, weil der Griff locker war und quietschte. Annegret bewahrte dort auch ihre Papiere und Urkunden und ein paar Münzen auf, die von den seltenen Auslandsreisen, die sie allein und später gemeinsam mit mir gemacht hatte, übrig geblieben waren. Fünf Forinth, ein paar tschechische Heller. Nach der Wende waren zwei dänische Kronen und sehr viele Franc-Stücke dazugekommen, das Wechselgeld, als ich kurz vor unserem Abflug in Paris noch eine Krawatte kaufte; goldenes Paisley auf leuchtendem Blau.
Ich hatte nie etwas in der Schublade angefasst. Der Duft, der mich benebelte, das polierte Eschenholz der Lade, der Anblick fremder Münzen und einer großen Lackbrieftasche genügten. Es gab ein Samtkissen, auf dem eine Uhr und Manschettenknöpfe aus eingedunkeltem Silber lagen, Erbstücke wie der Nachttisch selbst. Und so stellte ich mir als Acht-, Neun-, Zehnjähriger das Erwachsensein vor. Man erbte eine Schublade, in die das eigene Leben passte. Und was dort aufbewahrt wurde, durfte niemand außer einem selbst berühren. Denn sollte jemand Fremdes, und war es nur der eigene Sohn, darin herumwühlen, wäre dieses Leben für immer durcheinandergebracht.
Dass es dort noch ein anderes Foto gab, hatte ich nicht gewusst. Und nachdem ich es gesehen hatte, nachdem ich verstand, warum ich Annegret nicht ähnlich sah, warum ich nicht ihre weiße, sonnenbrandgefährdete Haut haben konnte und es nicht mehr nötig war, mich von einem Mann zu unterscheiden, der an der
Trasse der Druschba-Freundschaft
verunglückt war, nachdem ich begriffen hatte, dass sich noch eine ganz andere Geschichte neben der auftat, die ich bisher für meine gehalten hatte, verlor die Schublade ihren Reiz.
Das Foto war schwarz-weiß. Die Frau auf dem Bild war höchstens fünfzehn. Sie hatte schulterlanges, helles Haar, ein glattes Gesicht und blickte ernst an der Kamera vorbei. Sie erschien mir weder hübsch, noch war sie unattraktiv. Sie trug eine kurzärmelige Bluse, Polyester wahrscheinlich, einen gemusterten Rock und ein Band im Haar. Sie stand vor einer Haustür, die Farbe blätterte. Im rechten unteren Eck war ein Betonpapierkorb zu sehen. Das Bild war im Sommer aufgenommen worden. Ich hatte es an einem Sprühregentag im Herbst gesehen, nachdem mich meine Klassenkameraden damit aufgezogen hatten, dass ich nicht wie alle anderen in der Klasse eine richtige Mutter hatte, als ich dachte, dass es meine falsche Mutter war, die da im Schlafzimmer an der Heizung lehnte und durch die Gardine auf die Straße sah. Das Foto lag auf dem Bettrand.
»Das ist sie.«
Auf der Straße parkte der Golf des Nachbarn halb auf dem Bürgersteig, vor dem Getränkestützpunkt saßen die beiden Alkis, das Trafo-Häuschen versorgte das Neubauviertel ordentlich mit Strom. Und über alles legte die Gardine ihr feinmaschiges Gitter.
»Sie muss gewollt haben, dass du es mal bekommst.«
Ich starrte meine Mutter an.
»Du musst jetzt entscheiden, was du damit machen willst.«
»Das sagst du mir jetzt?«
»Ich habe lange über den richtigen Zeitpunkt nachgedacht«, sagte meine Mutter ruhig. »Und ich glaube, es gibt keinen.«
»Du hättest es mir von Anfang an sagen können.« Ich spürte zum ersten Mal, wie es war, die Kontrolle über die Muskeln zu verlieren. Mein Kopf fing unwillkürlich an zu zittern.
»Du hättest es nicht verstanden.«
Das Zittern griff auf die Schultern über, auf die Oberarme, es zog hinunter in die Hände.
»Was hätte ich nicht verstanden?«
»Alles«, sagte meine Mutter. »Wie es zusammenhängt. Du und ich. Was es bedeutet.«
Ich riss die Gardine auf. Ich hasse Gardinen, ich hasse ihr feinmaschiges Gitter, mit dem sie die Landschaft in kleine Einzelteile zerlegen. Das Gesicht meiner Mutter wurde im hereinbrechenden Licht
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