Sturz der Tage in die Nacht
gehen. Ich stellte mir vor, wie ich zu der in den Akten vermerkten Adresse aufbrechen würde, wie ich eine völlig fremde Frau aus der Ferne beobachten würde, wie sie mit ihren Einkauftstüten nach Hause kommt, drei Kinder springen um sie herum oder auch nicht, sie fährt einen Sportwagen oder auch nicht, ihr neuester Lover ruft sie auf dem Handy an. Es war eine Filmszene: wie die Ahnungslose unangekündigt vor der Haustür gestellt wird. Wie sie zusammenfährt. Wie ihr eine Tüte aus der Hand fällt; Zeichen des Schocks. Wie sie abwiegelt, wie die freie Hand fuchtelt, wie die Mundwinkel beben beim Versuch, diesen aufdringlichen jungen Mann auf freundliche Weise so schnell wie möglich loszuwerden, und nicht weiß, wie, mitten auf der Straße vor ihrem Haus, die Nachbarn tratschbereit an den Fenstern. Wie sie ihm schließlich eine Visitenkarte mit ihrer Telefonnummer gibt und in der Haustür verschwindet, die heruntergefallene Papiertüte zurücklassend, aus der eine Bio-Milch rollt; letztes Bild in Nahaufnahme.
Ich würde zu jenen verlorenen Kindern gehören, die ich bisher nur aus solchen Filmen oder aus der Zeitung kannte. Sie hatten ihre leiblichen Eltern wiedergefunden, und erklärt hatte das nichts. Nur die Fremdheit war offensichtlich geworden. Sie zerstörte die schöne Idee von der untergründigen Macht des Blutes. Das eigene Leben ließ sich nicht mit der Herkunft rechtfertigen, und schon damals begann ich zu denken, dass das vielleicht die ehrlichere Einstellung zu sich selber war.
Ich gab mein Vorhaben auf.
Ich suchte nicht mehr in jeder Frau, die mir begegnete, nach dem Gesicht, das ich auf diesem Schwarz-Weiß-Foto gesehen hatte.
Annegret glaubte mir nicht. Sie dachte, ich wollte sie damit nur beruhigen. Und dabei blieb es. Dabei wird es auch jetzt bleiben. Ich kehre zurück, und für Annegret wird sich nichts ändern. Und das, was für mich in dieser Zeit auf der Insel anders geworden ist, wird all das Unausgesprochene, das sich zwischen uns angesammelt hat, nur vermehren.
In der Nacht, als ich auf dem Bett lag und Karten schrieb, wurde ich vom Geräusch einer zufallenden Tür gestört, es war die Tür zu Feldbergs Zimmer. Ich hörte seine Schritte auf dem Gang, die sich in Richtung der Treppe entfernten. Auf meiner Uhr war es fast eins. Um diese Zeit lag die Insel im blauen Zwielicht. Das Zwielicht ebnete Felsvorsprünge und abschüssige Stellen im Boden ein und ließ Schatten wie Hindernisse aussehen. An den Gebäuden gab es keine Außenbeleuchtung. Stora Karlsö wurde nur mit dem nötigsten Strom versorgt, da die Insel unter strengen Naturschutzauflagen stand. Feldberg brach um diese Zeit nicht zu einem Spaziergang auf.
Ich legte die Karte an Annegret auf den Nachttisch. Ich nahm Kapuzenshirt und Lederjacke und warf mir eine Handvoll Nüsse in den Mund. Ich hatte an diesem Abend noch nichts gegessen.
Als ich nach draußen kam, sah ich Feldbergs weiße Schirmmütze hinter den Wacholderbüschen verschwinden. Wie zwei Säulen flankierten die Büsche den Pfad, der zum Museum führte. Es war windstill. Der noch am Abend schräg an Land treibende Nieselregen hatte sich verzogen, und die Windstille machte die Luft klebrig. Ich zog mein Kapuzenshirt wieder aus und warf es neben die Außentreppe. Dann folgte ich dem unruhigen Lichtfleck seiner Taschenlampe, der sich den Pfad hinunter entfernte, durch die graublaue Nacht.
Heute, auf der Fähre, mit dem Abstand von mehreren Monaten, wirkt dieser Junge lächerlich. Es wäre leicht, zu behaupten, dass es schon damals eine Ahnung gab, die mich antrieb, etwas Untergründiges, das sich noch nicht ins Bewusstsein vorgearbeitet hatte. Aber so war es nicht. Hätte ich eine Ahnung gehabt, wäre ich Feldberg vielleicht nicht so leichtherzig gefolgt. So aber lief ich hinter ihm her, getrieben von Neugier und dem Gedanken, er könnte sich zu Inez aufgemacht haben, er treffe sich heimlich mit ihr, ich hatte den Film schon im Kopf.
Feldberg lief zum Museum. Ich sah, wie der Fleck seiner Taschenlampe über die Tür irrte, dann verharrte. Die Tür ging auf, Feldberg musste im Besitz eines Schlüssels sein. Er ließ die Tür angelehnt. In Inez Büro ging das Licht an. Vor ihrem Fenster standen die Brennesseln hoch. Als ich die Arme hob, um näher heranzugehen, ohne die Pflanzen zu berühren, knarrte meine Lederjacke. Daran erinnere ich mich deutlich, das laute Knarren der Jacke und wie ich mit erhobenen Armen reglos in den Brennesseln stand.
Ich wartete
Weitere Kostenlose Bücher