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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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ich hatte mir nur vorgestellt, dass meine Kumpel diese Art Gespräch mit ihren Vätern führten. Ich fand nicht, dass Rainer Feldberg ein Recht auf diese Rolle hatte, und trotzdem war ich froh. Er hatte es ausgesprochen.
    »Woher kennen Sie Inez?«
    »Wir waren Kinder, und ich habe sie verhungern lassen«, sagte Feldberg knapp.
    »Sie haben was?«
    Feldberg rückte seine Mütze zurecht.
    »Ich erzähl’s Ihnen«, sagte er. »Aber kommen Sie. Bleiben Sie nicht dauernd stehen.« Er ließ den Strahl der Taschenlampe über den Weg streifen. »Ich habe sie auf einer Wippe verhungern lassen. Auf einem Spielplatz. Sie saß oben, und ich ließ sie nicht wieder runter. Lachen Sie nicht, Erik. Das war nicht gerade ein günstiger Beginn. Aber später hatte sie sich in eine blöde Sache verstrickt, und ich wurde so etwas wie ihr Schutzengel.«
    »Wann war das«, sagte ich.
    »In einem Teil der Welt, der nicht mehr existiert und mal die Zukunft war.«
    »Im Osten? Also doch.«
    »Greifswald war damals das Epizentrum des Ostens. Die atomare Machtzentrale.«
    »In der Nähe bin ich aufgewachsen.«
    »Dann kennen Sie’s ja«, sagte Feldberg. »Da glaubten sie damals noch an die Zukunft. Und das machte sie zu anderen Menschen.«
    »Die Greifswalder?«
    »Nicht nur die Greifswalder, mein Lieber. Das ganze Land. Man baute jeden Tag daran. Und abends erfreute man sich am Widerschein, den das noch unfertige Gebäude warf, entschuldigen Sie, wenn ich schwülstig werde.«
    »Klingt, als ob Sie von einem anderen Planeten reden.«
    »Das haben Sie gut herausgehört. Von einem verschwundenen und besseren Planeten.«
    Wir hatten den Leuchtturm erreicht.
    »Und was war das für eine Sache, in die Inez sich verstrickt hatte?«
    »Richtig! Wenn Sie den Rat eines Freundes hören wollen: Begeben Sie sich immer in die Rolle des Wahrheit Suchenden«, sagte Feldberg. »Aber ich kann Ihnen an dieser Stelle nicht viel mehr erzählen. Ich war damals in einer Position, in der es mir möglich war, ihr zu helfen. Na ja. Später habe ich sie aus den Augen verloren.« Er schaltete die Taschenlampe aus. »Aber eines kann ich Ihnen sagen, sie war nicht gerade die keuscheste Person unter der Sonne.« Er grinste und schob die Lampe in die Jackentasche. »Ich mochte sie. Mir wäre es lieber gewesen, ich hätte sie nicht erwischt.«
    »Bei was genau?«
    »Geldunterschlagung. Soligeld.« Er sah mich an. »Aber das wollen Sie nicht wirklich hören. Das ist vergangen und vergessen. Schwamm drüber. – Und wir zwei beiden? Was machen wir jetzt?«, sagte er schwungvoll. »Im Kühlschrank habe ich eine angebrochene Flasche Aquavit. Hat die Verfolgungsjagd Sie nicht durstig gemacht?«
     
    Die Rolle des Wahrheit Suchenden
, hatte er gesagt, nicht
der Wahrheit Suchende
oder
die Wahrheit suchen
, sondern
die Rolle des Suchenden
. Diese Formulierung tauchte später und in einem anderen Zusammenhang wieder auf, in einem Zusammenhang, in dem auch der Zeitungsartikel auf einmal einen Sinn bekam, den Rainer Feldberg in jener Nacht auf dem Boden in Inez’ Büro liegenließ, aus Versehen oder nicht. Der Zeitungsartikel, den Inez sich aus dem Internet heruntergeladen und ausgedruckt hatte und den sie am nächsten Morgen dort auf dem Boden liegen sah, wo sie ihn nicht hingelegt hatte. Der Artikel, der es ihr unmöglich machte, sich noch länger einzureden, dass Feldbergs Auftauchen auf Stora Karlsö Zufall wäre.
    Der Zufall. Der als Begründung dient, wenn Erwartungen nicht erfüllt werden.
    Inez hatte erwartet, dass Feldberg mit seinem Besuch auf der Insel eine Absicht verfolgte. Der Zeitungsartikel, der am Morgen wie hingeweht auf dem Boden lag, bestätigte diese Erwartung. Feldberg war nicht gekommen, um den Anbau von Rauschpflanzen zu überprüfen.
    Atropa baetica. Atropos, die Unabwendbare. Die von den Dingen singt, die sein werden. Schicksalsgöttin, die den Lebensfaden abschneidet. Wenn man an Schicksal glaubt. Oder wenn jede andere Begründung für ein Ereignis seine Glaubwürdigkeit verloren hat.
    Das alles fand ich später heraus.
    Was Feldberg in dieser Nacht im Juli in Inez’ Büro eigentlich gesucht hatte, welche
Ressourcen
er hatte auftun, welches Material er hatte
sichern
wollen zur
konkreten und lückenlosen Nachweisführung
, die Inez als unzuverlässig
hinstellte
, wie er wahrscheinlich sagen würde, habe ich nie herausgefunden.
    Am nächsten Morgen war das Büro aufgeräumt wie immer. Der Schreibtisch war leer bis auf die blauen Kästen der Ablage, die sich

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