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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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deinem Büro? Ich bin ihm gefolgt.«
    Inez sagte nichts.
    »Ich frage mich, was er dort wollte.«
    »Du könntest einfach mit dem Fragen aufhören«, sagte Inez.
    »Warum?«
    »Es würde mir besser gefallen.«
    »Hast du was zu verbergen?«
    »Bei deiner Neugier ist es schwer, etwas zu verbergen.«
    »Du weißt, dass es Feldberg war, oder?«
    »Es interessiert mich nicht.«
    »Hattest du was mit ihm? War er dein erstes Mal?«
    »Im Frühjahr, wenn die Vögel nach einem langen Winter auf offenem Meer an Land kommen«, sagte Inez, »das ist ein erstes Mal, das man nicht vergisst.«
    Damals schien es mir, als wolle sie meiner Frage ausweichen. Aber sie war nicht ausgewichen, wie ich heute weiß. Sie bezog die Frage nur auf das, was ihr in diesem Moment geschah. Sie war überrascht, dass ihre Schroffheit bei mir nicht die übliche Wirkung hatte. Normalerweise hielt sie die Leute mit dieser Schroffheit auf Abstand, die Scouts, die Vereinsmitglieder, die Ornithologen, mit denen sie früher, vor der Doktorarbeit, bei
seabirds at sea
zu tun gehabt hatte. Sie hatte mir erzählt, dass sie jedesmal mit einem anderen Schiff, mit einer anderen Reederei unterwegs gewesen war. Die Gespräche an Bord hatten sich um Praktisches gedreht, darum, die See- und Küstenvögel auf einem zweihundert Meter breiten Streifen rechts und links vom Schiff zu erfassen; Daten, die dazu verwendet werden würden, Meeresschutzgebiete in der Nordsee auszuweisen und einen Atlas der Seevögel der Deutschen Bucht zu erstellen,
schiffsgestützte Transektzählung,
wie sie dazu sagte. Die Leute auf diesen Schiffen hatte sie in der Regel nicht wiedergesehen. Nur an eine Frau konnte sie sich gut erinnern, an einen nautischen Offizier, eine Amerikanerin, die an einem stürmischen Tag zu ihr gesagt hatte:
You don’t show it, but you are a loose cannon
, und Inez hatte erzählt, dass sie eine Weile gebraucht hatte, bis sie verstand, was damit gemeint war.
    Gemeint war, dass einer der wesentlichen Gründe, auf diesen Schiffen unterwegs zu sein, für Inez nicht die Vögel waren, auch wenn sie stundenlang zusehen konnte, wie sie sich dem Wind anvertrauten, sich hineinlegten in seine Auftriebe, wie sie sich reglos höher tragen ließen, die Flügel leicht nach innen gewölbt, bis eine Unterströmung sie ergriff und ihre Körper beschleunigte und sie die Führung wieder übernahmen, sich mit schnellen Flügelschlägen wegdrückten aus dem Sog des Windes und fast senkrecht hinunterstürzten, aufklatschten auf dem Meer. Inez hatte mir erzählt, dass sie auf diesen Schiffen unterwegs gewesen war, um frei und unkontrollierbar zu sein.
    Als ich sie auf dem Plateau nach ihrem ersten Mal gefragt hatte, war das Einzige, worauf sie nicht eingegangen war, meine Plumpheit gewesen. Sie redete nicht vom ersten Sex. Sie redete davon, wie sie sich jetzt fühlte, mit mir: Land in Sicht nach einem langen Winter auf offenem Meer.
    »Du kannst ihn nicht mal für einen Abend vergessen, was?« Das nächtliche Rot leuchtete in Inez’ Haar und auf ihrem Gesicht.
    »Wen?«
    »Feldberg.«
    »Hattest du was mit ihm oder nicht?«
    »Nur für einen Abend, Erik.«
    »Er hat mir geholfen.«
    »Da ich dich mag, sollte mich das vermutlich freuen.«
    »Willst du nicht wissen, wie?«
    »Nein.«
    »Wir haben eine Flasche Aquavit leergemacht, und er hat mir alles verraten.«
    »Es gibt nichts, was ich weniger wissen möchte.«
    »Er hat mir verraten, woher ihr euch kennt.«
    »Was gibt es da zu verraten«, sagte Inez.
    »Du hättest mir sagen können, dass du aus dem Osten bist. Ich habe dich gefragt.«
    »Und ich«, sagte Inez und griff nach der Bierflasche, die neben der Sonnenliege stand, »hatte keine Lust, darüber zu reden. Es langweilt mich.«
    Sie trank, ließ die Hand mit der Bierflasche über die Armlehne hängen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sie wollte mir zeigen, wie sehr es sie gelangweilt hatte, wie es sie auch jetzt langweilte, wie sehr unser Abend auf dem Plateau von einem so langweiligen Thema zerstört wurde.
    »Du musst ja nicht drüber reden«, sagte ich.
    »Gut. Reden wir nicht darüber.«
    »Du hättest es mir einfach mitteilen können.«
    Inez saß immer noch mit geschlossenen Augen da. »Wozu?«
    »Weil man das normalerweise so macht, wenn man sich kennenlernt!«
    »Du meinst, ich bin dazu verpflichtet.«
    »Man erzählt sich, wo man aufgewachsen ist.«
    »Wenn man im Osten aufgewachsen ist, hört das aber an dieser Stelle nicht auf, Erik. Dann muss

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