Sturz der Tage in die Nacht
ideologischen Stützpunkte der gegnerischen Parteien in Wahrheit sind.‹
MAZ : ›Über Ihren Werdegang liegen uns nur grobe Eckdaten vor. Sie haben Fernmeldetechniker gelernt, mit Abitur, ein Studium der Ökonomie absolviert und in diesem Bereich gearbeitet. Können Sie uns etwas über Ihre Familiengeschichte erzählen? Sie waren mal liiert, aber leben allein?‹
Ton: ›Sie haben recht, das Leben ist viel zu lang, um es allein zu verbringen! Das ist mir in den letzten Jahren aufgegangen. Man muss sich auch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen. Und es macht mich traurig, dass ein Teil dieser Vergangenheit verschwunden ist. Ich rede nicht von der DDR im Allgemeinen. Ich rede von meinem persönlichen Lebenslauf. Wie Sie vielleicht wissen, ist meine Frau damals in den Westen gegangen, meinen Sohn habe ich nie gesehen. Als sie wegging, hat sie mich in dem Glauben gelassen, sie habe das Kind mitgenommen. Erst nach der Wende fand ich heraus, dass das nicht der Fall war. Sie hat es weggegeben. Momentan setze ich alles daran, den Kontakt zu meinem Kind herzustellen. Hier treffen sich meine Überzeugung als Politiker und meine persönlichen Gründe, mich dafür stark zu machen, den Menschen aus der DDR Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich wünsche mir, meine politische Karriere als wiedervereinigter Vater beginnen zu dürfen.‹«
Während die Schiffsschraube die Ostsee in Salzschaum verwandelt und die Insel in der Ferne an Farbe verliert, versuche ich, mir vorzustellen, was Inez gedacht hatte, an diesem Morgen, als sie den Zeitungsartikel auf dem Boden liegen sah. Mir kommt nur eine ihrer typischen Formulierungen in den Sinn:
Hoffentlich merkt jemand, was das für eine Sprache ist
.
Hoffentlich merkt man,
dass er redet wie im Kalten Krieg.
Was Rainer Feldberg zu diesem Artikel gesagt haben dürfte, ist mir völlig klar:
Legendenbildung
. Und:
Ich werd mich mal umhorchen, wie der wiedervereinigte Vater ankommt.
Damals konnte ich mit diesem Artikel nichts anfangen. Ich legte ihn in die Mappe und schob die Mappe zurück ins Regal.
Wenig später rief der Vereinsvorsitzende alle Mitarbeiter der Insel zu einer Aussprache zusammen. Wie sich herausstellte, hatte Guido darauf gedrungen. Er fand, er sei überlastet. Er fand auch, dass Inez’ Verhalten unverantwortlich sei. Sie sei zu oft bei den Vögeln und setze sich zu wenig für die touristischen Belange auf der Insel ein. Die Anzeige wegen illegaler Bepflanzung sei zwar fallengelassen worden, sagte Guido im Vorführraum des Museums, wodurch die anderen überhaupt zum ersten Mal von dieser Anzeige erfuhren, das bedeute jedoch nicht, dass sich artfremde Pflanzen nicht weiterhin ungehindert ausbreiten würden.
Der Vereinsvorsitzende bat Rainer Feldberg um eine Zusammenfassung seiner Untersuchungen. Feldberg lehnte ab. Er hielt es für voreilig, schon jetzt ein Urteil abzugeben. Der Vorsitzende forderte die Scouts und die Praktikantin auf, ihre Sicht vorzutragen.
»Wann ist Ihre sogenannte Untersuchung denn abgeschlossen?«, fragte Inez dazwischen.
»Frau Rauter, bitte!« Die Rolle, die der Vorsitzende an diesem Tag innehatte, schien nicht seine liebste zu sein. »Ich habe Ihnen doch schon wiederholt zu verstehen gegeben, dass es sich um eine Routineuntersuchung handelt. Die Bewirtschaftung durch den Karlsöclubb darf nicht, und ich lese Ihnen das gern noch einmal im Wortlaut vor«, er schlug eine Seite in seinem Aktenordner auf, »
darf nicht zu
erheblichen Beeinträchtigungen des Vogelschutzgebiets in seinen für die Erhaltungsziele oder den Schutzzweck maßgeblichen Bestandteilen führen.
Die europäischen Rechtsvorschriften müssten Ihnen als Fachfrau eigentlich bekannt sein.«
Inez hatte sich im Stuhl zurückgelehnt. Sie hatte den Arm ausgestreckt und drehte einen Pappbecher.
»Herr Feldberg hat für diese Untersuchung soviel Zeit, wie er eben benötigt«, sagte der Vereinsvorsitzende.
Inez drehte den Becher langsam und mechanisch im Kreis.
Der Vereinsvorsitzende wartete noch einen Moment, aber als von Inez nichts mehr kam, nickte er Giudo zu. Guido klappte sein Notizbuch auf und berichtete, dass er seit neuestem zwei Touren am Tag mache, anstatt nur einer, dass es bei der Zimmerbelegung im Leuchtturm Überschneidungen gegeben habe, er nannte die Daten, dass die Belehrung der Touristen vernachlässigt werde, auch hier hatte er Daten, erst gestern habe er ein verirrtes Pärchen aus der Naturschutzzone zurückgeholt.
»Warum genau haben Sie diese
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