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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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noch mal.
    »Nein«, sagte sie. »Wir tun bloß was gegen den Hunger.«
    Sie beobachtete, wie eine langgestreckte Wolke sich von den Rändern her auflöste.
    »Du willst hören, wie das Leben und die Liebe und die Hoffnung zerstört werden, Betonung auf zerstört, so dass du am Ende denkst, in so einem Arbeiter- und Bauernland möchtest du aber nicht gelebt haben, wie gut, dass das vorbei ist, dass das bloß eine Geschichte ist. Nur der Mensch, der täglich auf seinen zwei Beinen durch diese Geschichte gelaufen ist, hat nicht auf einmal zwei neue Beine oder einen neuen Rumpf. Und das kränkt ihn, Erik. Und es kränkt ihn auch, dass er gezwungen ist, sich auf diese Weise an sein Leben zu erinnern. Und zwar jedesmal, wenn er darüber Auskunft geben muss. Es kränkt ihn, dass das sein Leben gewesen sein soll.«
    »Verstehe.«
    Sie sah mich skeptisch an.
    »Wenn man sich einmal darauf einlässt, hat man keine normalen Beine mehr.«
    »Ich hab’s kapiert.«
    »Gut«, sagte Inez. »Dann bist du mein persönlicher Erbe. Falls mir was passiert, weißt du Bescheid. Und jetzt entspann dich, Erik. Ich trag ja keinen Sprengstoffgürtel, der gleich in die Luft geht.«
    »Soligeld. Das haben doch die Angolaner von uns gekriegt, oder?«
    »Gib mir noch ein Bier«, sagte Inez. »Und bevor du die Flasche aufmachst, könntest du mich noch einmal küssen.«
    »Findest du das nicht total lächerlich?«
    »Vorhin hatte ich nicht diesen Eindruck.«
    »Ich meine, dass Feldberg dich deswegen anzeigt!«
    Als ich mich hinunterbeugte, um eine neue Flasche aus dem Sixpack zu nehmen, fing Inez meine Hand ab.
    »Ich bin dafür, dass du mit in meine Hütte kommst«, sagte sie rau. »Jetzt, wo wir wissen, wie der Sonnenuntergang funktioniert.«
    Das war Mitte Juli. Als das Wetter am schönsten war.
    Inez’ Hütte stand abseits der Bucht. Bis zur Landzunge gab es einen Weg. Danach folgten wir der weißgescheuerten Spur auf den Steinen. Es war hell genug. Wir brauchten keine Taschenlampe.
    Was ich in ihrer Hütte zuerst sah, war ein kleiner Handspiegel. Er lag auf der wackligen Konsole neben der Tür. Darüber hingen an einem in die Wand geschlagenen Haken ein Regenmantel, eine robuste Arbeitsjacke und ein Kletterharness. Die Hütte bestand aus zwei Zimmern. Im Wohnraum gab es eine offene Küche, auf dem Tresen standen ein Messerblock, ein silberner Wasserkocher und ein Espressoautomat. Ein Notizbuch lag aufgeschlagen daneben. Ich erkannte ein paar Zeichnungen von Schnäbeln, eine zum Trocknen eingelegte Blüte. Auf dem Sofatisch stand ein schwerer gläserner Aschenbecher. Inez rauchte nicht. Sie benutzte den Aschenbecher, um Teelichte hineinzustellen. Wären der Werkzeugkasten und die Kiste mit Datenloggern in der Ecke nicht gewesen, die wie halbe Maiskolben aussahen, hätte man das Ganze für das Musterbeispiel einer Ferienhütte halten können.
    Inez legte keine Musik ein.
    Sie zündete Teelichte an. Sie gab mir Wein. Wein, den sie von ihren Einkäufen in Visby mitbrachte. »Trink«, sagte sie.
    Sie stellte die Flasche auf den Küchentresen. Sie kam um den Tresen herum, nahm meine Hand und zog mich zum Sofa, auf dem ein dunkelgrünes Kissen lag. Durch die offene Tür zum Nebenraum konnte ich ein stabiles Holzbett sehen, ein Sonnenschirm lehnte zusammengeklappt an der Wand.
    Inez machte mir umstandslos den Gürtel auf.
    Es war kühl in der Hütte.
    Ich hörte das Metall der Gürtelschnalle klicken, und saß da, als warte ich auf einen weiteren Befehl.
    Inez zog sich schweigend vor mir aus.
    Ihr Haar löste sich und fiel ihr auf die Schultern. Unter ihrem Shirt trug sie ein dünnes, grasgrünes Tanktop mit Spaghettiträgern. Sie schob die Träger über die Schultern und ließ das Top auf ihre Hüfte rutschen. Bevor ich sie länger ansehen konnte, leuchtende Strähnen vor dem Kerzenlicht, das dichteste, duftendste Haar, das ich je wahrgenommen hatte, legte sie mir ihre Hände auf die Unterarme. Sie tauchte unter dem Sweatshirt durch, das ich über den Kopf gezogen, aber noch nicht fallen gelassen hatte. Sie lehnte sich an mich. Ich spürte Gänsehaut auf ihren Armen.
    »Wenn du irgendwelche Bedenken hast«, flüsterte sie in meine Schulter, »sag’s mir nicht erst hinterher.«
    Als ich mich losmachen und aufstehen wollte, es waren nur ein paar Schritte ins Nebenzimmer zum Bett, hielt sie sich an mir fest.
    »Ich hab keine Bedenken«, flüsterte ich.
    »Auch nur den kleinsten Zweifel.«
    »Nein. Wieso?«
    »Dann mach was«, sagte Inez,
nicht gerade

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