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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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man
normalerweise
Auskunft geben.«
    »Ja und«, sagte ich heftig, »was ist daran so schlimm?« Aus dem Rot der Ostsee tauchte das Motorboot auf, sein gleichbleibend dumpfer Ton drang zu uns herauf. Die Sportler drehten eine Abendrunde. Ihre Kajaks waren blasse Striche auf dem Wasser, nur das Boot mit seinem schwarzen Rumpf hob sich deutlich ab. »Ich finde es schlimm, belogen zu werden.«
    Inez lachte. »Du bist ja ein Süßer«, sagte sie. »Du bist wirklich süß.«
    »Er hat mir verraten, dass er dich wegen Geldunterschlagung angezeigt hat.«
    Inez öffnete die Augen und sah mich an. »Dann scheint er dir wirklich geholfen zu haben.«
    Ich wich ihrem Blick aus. »Soviel geb ich auch wieder nicht auf das, was er sagt.«
    »Nein«, sagte sie. »In seinen Augen werde ich jetzt für dich erst richtig interessant!«
    Am Rand des Plateaus tauchte die Praktikantin auf. Sie fuchtelte mit den Armen, als gebe es eine entscheidende Neuigkeit oder als brauche sie dringend Hilfe, und Inez sprang auf. Ich sah sie beruhigend auf das Mädchen einreden, bis die Praktikantin nickte und aufhörte, mit den Armen zu fuchteln und nur noch mechanisch an ihrer Jacke zog.
    »Ich würde mehr auf das geben, was
du
sagst«, sagte ich, als Inez zurück war. Die rote Färbung des Himmels verblasste.
    »Du willst gern hören, was alle gern hören wollen, stimmt’s?«, sagte Inez. »Du willst gern hören, wie sich jemand gegen die Staatsgewalt aufgelehnt hat und zur Heldin wurde. Lauter kleine Helden im Arbeiter- und Bauernstaat.«
    »Ich will gar nichts Bestimmtes«, sagte ich.
    »Das glaube ich dir sogar. Du hast ja auch eine Mutter, die dir das erzählen kann.« Sie schaute in die Richtung, in die die Praktikantin verschwunden war. »Er hat sie auf dem Kieker«, sagte sie.
    »Feldberg?«
    »Nein, Guido. Ausgerechnet Guido. Sonja war völlig durcheinander. Was ist hier bloß los?« Inez griff nach ihrer Bierflasche. Es war diesmal echtes Bier,
Mariestads
, wir hatten es mit der Fähre kommen lassen. »Ich habe ihr versprochen, morgen früh für sie einzuspringen. Hast du was dagegen, mit mir wach zu bleiben?«
    »Es ist sowieso zu hell zum Schlafen.«
    Ich hatte mit Feldberg in der Küche getrunken bis drei, vier Uhr nachts, und beim dritten Glas Aquavit hatte er angefangen, von seiner Mauernacht zu reden und wie diese Nacht für ihn in Flammen aufgegangen war, wie er in seiner Datsche ein großes Feuer gemacht und sein Leben verbrannt hatte, das eine von sieben, wie er lachend sagte,
ein verfrühter Totensonntag
. Ich hatte mir angehört, wie er sein riesiges Feuer angeheizt hatte, immer noch mehr Scheite und Astwerk, Funken sollte es geben, eine Feuermauer sollte es sein, und alles, was er und seine Arbeit gewesen waren, sollte in Fetzen davonfliegen, sein Leben, das jetzt nichts mehr bedeutete,
ab in den Orkus!
    »Das Bier ist gar nicht so übel«, sagte Inez. Sie trank einen Schluck, und in diesem Mitternachtslicht, das sich über den gesamten Horizont verteilte, das alles erfasste, das seine Farbe im Laufe der Nacht änderte, aber nie verschwand, war sie mir auf einmal sehr nah. Es kam mir seltsam vor, dass ich sie erst seit ein paar Wochen kannte.
    »Hast du eine Ahnung, was der Typ in deinem Büro wollte?«
    »Das hat er dir beim gemeinsamen Besaufen nicht erzählt?«
    »Er hat gesagt, er wollte die Lage mit den Tollkirschen checken.«
    »Er wollte mir Angst machen«, sagte Inez. »Oder nein. Er wollte mich daran erinnern, dass einer seiner Kumpel Angst hat.«
    »Und wer ist dieser Kumpel?«
    »Du willst doch was ganz anderes hören.«
    »Kandidiert dieser Kumpel zufällig für den Bundestag?«
    »Du möchtest gern hören, wie sich jemand vom Soligeld, das er eingesammelt hat, etwas in die eigene Tasche steckt«, sagte Inez leise. »Ein Akt gegen die Staatsgewalt, für den er jahrelang schikaniert wird und kein Abitur machen darf.« Sie machte eine Pause. »Du stöberst also in meinen Sachen herum.«
    »Nein.«
    »Nein? Ich dachte, du findest Lügen schlimm.«
    »Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen. Das ist kein Herumstöbern.«
    »Man kann auch schnüffeln dazu sagen. Oder spionieren.«
    »Mit dir zu reden ist so, als ob man ständig hungrig ist.«
    »Du willst hören, wie jemand den Ruf verliert und die Freunde verliert und wie die Familie, die Zukunft, die Gesundheit, die körperliche und geistige Gesundheit – Betonung auf geistige – zerstört werden«, sagte Inez.
    »Ich will gar nichts Bestimmtes hören«, sagte ich

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