Sturz der Tage in die Nacht
stand mit geöffnetem Deckel mitten im Gartensaal, die Wände waren bedeckt von Zeichnungen.
Ich war in diesem fremden, kunstbestückten Haus so allein, wie ich zuvor im Wald allein gewesen war. Es war nicht ganz real. Und wenn ich es mir mit Inez dort vorstellte, waren auch wir nicht ganz real. Wir würden es auf dem polierten Holzboden tun. Auf dem Flügel oder auf der Wendeltreppe, die sich in den ersten Stock schraubte. Von draußen käme der Geruch des geschnittenen Rasens und der dicken gelben Akaziendolden herein, und nur das Rauschen wäre zu hören von den Kiefern, vom Meer.
Wäre ich von der Straßenseite gekommen, wäre mir der Palazzo nicht so unwirklich erschienen. Ich hätte das Schild bemerkt, das Ausstellungsbesucher um eine Spende bat. Aber die Verbindung zur Straße entdeckte ich erst später.
Beim Schwimmen ließ die Erregung vorübergehend nach.
Doch schon während des Abtrocknens, wenn ich mir frierend T-Shirt und Pullover überwarf, war das Verlangen wieder da, und ich konnte den Abend kaum erwarten, wenn Inez zu mir käme aufs Plateau.
Manchmal verbrachte ich die verbleibenden Stunden auf dem Beobachtungsposten. Ich hatte mir einen Felsvorsprung gesucht, unter dem vier Vogelpaare ihre Nester hatten. Ich lag bäuchlings auf dem flachen Stein, den Kopf über die Kante geschoben, und führte Buch darüber, wie oft die Vögel zu Beutezügen aufbrachen. In Inez’ Untersuchung ging es auch um den Einfluss der Umweltbelastungen in der Ostsee auf das Verhalten bei der Nahrungsaufnahme. Die Vögel waren nur eine Armlänge von mir entfernt. Es stank.
Eine Lumme hatte das Nest seit Tagen nicht verlassen. Sie brütete noch. Ihre Federn waren schmierig vor Kot. Ich hörte ihr gleichmäßiges dunkles Schnarren. Immer wieder sah sie mit seitlich gelegtem Kopf zu mir hoch, weil der Himmel über ihr auf einmal ein Gesicht hatte.
Manchmal ging ich zum Hafen und sah den Sportlern zu. Sie hatten ihr Training beendet oder machten sich für eine weitere Runde fertig. Sie trugen Neoprenanzüge über ihren Badehosen und machten Dehnübungen oder sprinteten zur Erwärmung über den Strand. Einmal hatte ich gefragt, ob sie mir eines ihrer Kajaks ausleihen würden. Aber sie hatten keines übrig, oder sie sagten mir das, damit sie ihre Boote nicht hergeben mussten. Es lagen genug am Strand.
Ich setzte mich draußen vors Café. Ich nahm die
Dagens Nyheter
vom Zeitungsständer, aber ich war zu unruhig zum Lesen. Ich sah in die Sonne und sehnte mich danach, mit dem Boot die Insel zu umrunden, mich auszupowern und das Wasser neben dem Boot hoch aufspritzen zu lassen.
Guido kam vorbei. Er bemerkte mich nicht oder er tat so. Er ging ins Café. Nach einer Weile stellte er sich mit einem Becher Kaffee in die Tür.
»Falls du Nachschub brauchst«, rief ich ihm zu, »ich hab hier eine ganze Kanne.«
Guido krempelte die Ärmel seines karierten Hemdes herunter, darüber trug er eine Weste aus blauem Kunstfell.
»Hast du Feierabend?«, rief ich. »Lust auf ein Wettschwimmen?«
Er sah mich nur an.
»Hey, trau dich! Ich bin total aus der Übung.«
Er wartete noch einen Moment und kratzte sich im Nacken. Dann kam er zu mir herüber.
»Schwimmen«, sagte er und setzte sich hin. »Bisschen kalt heute, oder?«
»Die Luft ist warm.«
»Morgen soll’s regnen.«
»Noch ein Grund, heute eine Runde zu drehen.«
»Wenn’s regnet, haben wir morgen endlich mal ’n bisschen Ruhe«, sagte er.
»Keine Touris?«
»Dann komm ich auch mal wieder zum Zeitunglesen.« Er beugte sich vor und schnipste gegen die Blätter. »Unsereiner hat nicht soviel Zeit wie du.«
»Ich hätte gedacht, auf so einer Insel ist insgesamt mehr Rummel.«
»Hättest du.«
»Ja.«
»Du schläfst ja noch, wenn die morgens hier wie die Kaputten einfallen und sich die Bäuche vollschlagen.«
»Sie haben einen Tagesausflug mit Lunch gebucht!«
»Genau. Und deshalb stopfen die sich die Krabbenbrote rein wie verhungerte somalische Kinder.«
»Mich stört’s nicht.«
»Sag ich doch. Einer wie du kann sich da fein raushalten.«
»Warum machst du diesen Job, wenn’s dich stört?«
»Weil es um dieses Land hier geht. Verstehste? Um jeden Krümel Kalk, um jede Weichselkirsche, jedes Leberblümchen. Da weißt du, was du riechst, was du fühlst. Das ist noch echt. Da gehörst du hin als Mensch. Es war immer schon da, und es darf nicht sein, dass es vor unseren Augen verschwindet.«
»Schon klar«, sagte ich. »Aber Vogelgucker sind keine Ballermanntouris.
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