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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Da hat jemand den richtigen Zugriff gehabt. Würde gern sagen, man selber. Man selber war aber zu schüchtern, nicht wie Sie, Erik, Sie sind das Kind einer anderen Welt. Umgänglich. Nicht so leicht zu beeindrucken. Hohe Meinung von sich selbst. Kannte man damals nicht. Machte man nicht. Hatte man nicht auf dem Schirm. Oder nur die wenigsten. Man war ja kollektivistisch unterwegs. Immer mit der ganzen Truppe. Hat Vorteile gehabt, ganz klar. War man immer irgendwie mit zugange. Kam keine Leere auf. Für manche der Pluspunkt im Sozialismus. Für meine Mutter sogar die Rettung. Konnte nicht allein sein. Ein echter Tick. Keine Minute allein im Zimmer, ohne Schweiß auf der Stirn und Erstickungsanfälle, hat gedacht, ist wieder in Dresden und der Keller brennt. Komisch für Sie, was, Erik? Strange«, sagte er und sprach das Wort deutsch aus. »Wie die Jugend von heute sagt.«
    »Ja«, sagte ich. »
Strange

    Feldberg nickte. Dann lachte er. »Das gibt’s doch nicht! Sie haben mich erwischt, Freundchen. Sie haben mich an einem neuralgischen Punkt erwischt, Sie müssen zugeben, dass meine Theorien zum Selbsterklärungsbedürfnis der Menschen nicht ganz von der Hand zu weisen sind. Merken Sie sich, wie Sie das angestellt haben. Man kann es immer mal wieder gebrauchen.«
    »Ich merk’s mir.«
    »Inez war eine echte Ausgeflippte«, sagte er.
    »Das haben Sie schon gesagt.«
    »Aber hallo! Hatte jede Menge Grips, wollte aber lieber durchs Land trampen, weg von zu Hause, von ihren Intelligenzlereltern. Die hatten schon werweißwas im Kopf, sollte Frau Professor werden, noch eine Studierte mehr.«
    »Ich dachte, Schule schmeißen ging nicht im Sozialismus.«
    »Das ging ganz von selber«, sagte er. »Schneller als man gucken kann. Und jemand musste dann was drehen. Musste ihr unter die Arme greifen. Man selbst hat ihr unter die Arme gegriffen. Man war damals, wie soll man sagen, in der richtigen Position. Freundschaftsdienst. Wollte mich für sie einsetzen. Jeder hat andere Ressourcen, und meine hab ich ihr unumschränkt zur Verfügung gestellt. Fand sie später aber nicht mehr so gut. Malochen ist anstrengend. Hat gedacht, ich wollte ihr was. Steine in den Weg«, sagte er. »Erzählt sich heute auch viel besser. Ich kenn doch meine Pappenheimer. Siebzehn Millionen, und alle sind Opfer.«
    Ein Windstoß blätterte die
Dagens Nyheter
auf. Feldberg betrachtete gedankenverloren die Abbildung von Schafen.
    »So ist das also«, sagte ich.
    »So ist das.«
    »Ich hab’s immer noch nicht kapiert.«
    »Kann man auch nicht. Kann man sich heute alles nicht mehr vorstellen.«
    »Wenn Sie ihr so toll geholfen haben, wieso ist sie dann sauer auf Sie?«
    »Das Kind sollte Abitur machen. Die Eltern waren da hinterher wie sonst was. Aber sie wollte lieber rumtouren. Hat sich abgeseilt.«
    »Und dafür brauchte sie das Soligeld?«
    »Die Zulassung zum Abi war dann im Eimer.«
    »Ich kapier’s nicht.« Ich stand auf. »Ich muss was essen. Ich krieg sonst noch einen Koffeinschock.«
    »Gute Idee«, sagte Feldberg. »Bringen Sie mir eines von diesen Krabbendingern mit, ja?« Er war plötzlich wieder munter und kramte in seiner Hosentasche. »Hier. Aber ohne dieses Glibberzeug, was sie da draufklatschen!«
    Das Glibberzeug war Mayonnaise mit rotem Farbstoff. Der Koch überzog unterschiedslos alle Gerichte damit, auch die Krabbenbaguettes waren dick belegt. Ich nahm zwei aus den Kühlregalen am Tresen. Das eine legte ich auf einen Teller und brachte den Teller zu Feldberg. Mein Baguette packte ich in eine Papiertüte. Ich wollte nicht mit ihm essen. Ich nahm die Tüte zum Leuchtturm mit.
     
    Im August öffnete das Café nur noch vier Stunden am Tag. Touristen kamen seltener, und Inez fragte oft, wann ich abreisen würde, bis ich irgendwann sagte: »Ich bleibe, solange es dauert.«
    Rainer Feldberg war abgereist. Ende Juli oder Anfang August. Eines Nachmittags hatte er die Fähre genommen, nicht ohne eine deutliche Botschaft zu hinterlassen. Er hatte sich nicht dazu bekannt, aber es kam niemand anderes in Frage. Er war der Einzige außer mir und der Praktikantin, der wusste, dass Inez morgens häufig allein in die Felsen aufbrach. Nicht immer wegen ihrer Doktorarbeit. Sie ging in die Felsen, um die Tordalke zu besuchen. Nachdem ich Inez geholfen hatte, sie neu zu beringen, hatte sich der Vogel einige Tage nicht gezeigt. Inez hatte befürchtet, die Alke könnte die Tortur übelgenommen und sich ein anderes Nest gesucht haben. Sie hätte nur ein

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