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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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zu fliegen, viele waren schon auf dem Weg in den Süden. Wir warteten. Dann liefen wir die Felskante entlang und versuchten, die Alke auf den verkoteten Felsnasen zu finden.
    »Vielleicht ist sie schon aufgebrochen.«
    »Nein, Erik. Da stimmt was nicht. «
    Das Männchen wurde unruhig. Es richtete sich auf, peitschte mit den Flügeln, setzte sich wieder, erhob sich, verbeugte sich pausenlos, wie diese Vögel es tun, wenn sie aufgeregt sind, und flog schließlich nach einem erneuten Brutversuch weg.
    »Das Ei!«, rief Inez. »Wir müssen das Ei retten!« Sie warf die Windjacke ab. Sie griff nach dem Sicherungsseil und ließ sich, ohne auf mich zu warten, über die Felsplatte hinab. Sie hielt sich nur mit einer Hand fest, den Kletterharness hatte sie nicht mitgenommen. Ich rief ihr nach, dass ich den Harness holen würde, dass sie warten solle, aber sie hörte mich nicht. Sie schwang sich Schritt für Schritt die glatte, abfallende Steinplatte hinunter bis an die Kante. Dann stand sie da, zögerte kurz und versuchte schließlich, an der steilen Felswand hinabzuklettern.
    Sechzig Meter über dem Meer auf Kalkstein. Die Vorsprünge in der Wand waren gerade groß genug für zwei Vogelkörper. Der Aufwind war stark.
    Ich sah Inez hinter der Kante verschwinden, bis nur noch ihr Kopf sichtbar war, der sich auf einmal nicht weiter bewegte. Vielleicht hing sie fest oder fand keinen Halt. Dann sah ich sie nach oben schauen, und als ich der Richtung folgte, in die sie sah, entdeckte ich die Möwe. Weiß und gewaltig näherte sie sich. Kopf und Schnabel waren sondierend nach unten gerichtet. Die Schwingen hatte sie wie zwei Schwerter gezückt, ich hörte das Surren, mit dem sie durch die Luft schnitten. Die Beine hingen dürr vor der großen Schwanzfeder. Die Zerbrechlichkeit dieser Beine ließ den Vogel noch gefährlicher erscheinen. Sein Flug war ruhig und gezielt, der Schnabel rötlich, die Spitze gekrümmt, ein Widerhaken, ein Todeswerkzeug.
    Als die Möwe das leere Nest ansteuerte, peitschten die Lummen auf den benachbarten Felsvorsprüngen mit den Flügeln. Aber ihre aufgeregten panischen Schreie blieben wirkungslos. Kurz vor dem Angriff zog sich der Möwenkörper zusammen. Die Möwe stieß herab, packte das Ei und war in Sekundenschnelle wieder aufgestiegen.
    Inez bewegte sich noch immer nicht. Sie sah dorthin, wo die Möwe gerade noch gewesen war. Sie sah nicht in Richtung Nest. Sie sah auf diese leere Stelle am Himmel, die nicht leer war, weil sie noch immer von den bedrohlichen Umrissen einer Möwe gefüllt wurde. Inez musste die Möwe noch immer sehen, so wie ich, wenn ich jetzt von der Fähre zurückschaue, die Insel noch sehen kann, obwohl sie doch schon im Dunst verschwunden ist.
    Inez wollte das Ei retten, um den Vogel zu retten. Als hätte sie damit den Tod der Tordalke rückgängig machen können, den sie schon ahnte. Oder als hätte sie die Ahnung aufschieben können, die sich kurz darauf bestätigte. Sie fand den Vogel nicht weit von ihrer Hütte am Strand.
Ihr Hals hing mir aus den Händen wie ein wasserloser Schlauch.
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Feldberg so was macht«, sagte ich.
    »Da wirst du nicht der Einzige sein.«
    Noch am selben Tag rief sie den Vereinsvorsitzenden an. Sie erzählte ihm von Rainer Feldbergs Botschaft.
    »Vergiftet scheint mir ein allzu starker Ausdruck«, sagte der Vereinsvorsitzende. »Besteht nicht ebenso die Möglichkeit, dass die Tordalke auf natürliche Weise verendet ist?«
    »Sie meinen, auf so natürliche Weise wie das Aussterben ganzer Gattungen?«, sagte Inez, die am Bürotisch lehnte und das Telefon laut gestellt hatte.
    »Sie war alt. Nichts spricht gegen einen natürlichen Tod.«
    »Nach dem Aussterben des Riesenalken ist die Tordalke weltweit der einzig verbleibende Vertreter der Gattung Alca. Das wissen Sie, oder? Mich würde in diesem Zusammenhang nämlich interessieren, wie Sie den Begriff des Natürlichen definieren. Fallen die sprachlichen Verniedlichungen, die Sie bevorzugen, auch darunter?«
    Der Vereinsvorsitzende sagte nichts. Wahrscheinlich fühlte er sich, wie so oft in letzter Zeit, in seiner Haut nicht ganz wohl, hatte aber ein zu ausgeprägtes Pflichtgefühl, um einfach aufzulegen.
    »Der Riesenalk ist nicht verendet, weil seine Zeit abgelaufen war oder der große Manitou ihn zu sich in die ewigen Jagdgründe gerufen hat. Er wurde ausgerottet«, sagte Inez. »
Das
wäre für mich die adäquate Bezeichung. Der
Ausdruck
, der der Tatsache, dass

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