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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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möchtest, dann wird hier einer frei.«
    »Schon gut, Erik. Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich zu verabschieden.«
    »Ich kann’s kaum abwarten«, sagte Inez, und jetzt sah sie ihn an. Sie drehte sich halb zu ihm hin, einen Arm auf der Rückenlehne. Unter dem transparenten Stoff ihrer Bluse zeichnete sich ein weißes, tiefausgeschnittenes Büstier ab. Als sie aufs Plateau gekommen war, hatte ich gedacht, dass sie das für mich trug; figurbetonte Sommerhosen, Schuhe mit eleganten, hohen Absätzen. Sie sah umwerfend aus. Aber sie hatte sich den Anschein einer solchen Alltäglichkeit gegeben, dass ich sicher war, mich getäuscht zu haben.
    Feldberg stand da wie ein Dackel. Er tat mir leid mit seinem Knick im Hut, in Shorts und mit dieser Flechte, die sich, wie mir erst jetzt auffiel, sein ganzes linkes Bein hochzog und unter dem Blick dieser Frau zu wachsen schien. Inez sah ihn an, als würde die Flechte seinen Hals und sein Gesicht bedecken, als wäre er nichts als verschuppte Haut.
    »Vorübergehend«, sagte Feldberg, »verabschieden.«
    »Auch bei weiterer Präzisierung wird sich nicht das kleinste Fünkchen Bedauern auftreiben lassen«, sagte Inez.
    »Die Familie wartet?«, sagte ich brav zu Feldberg.
    »Ich muss mich zu Hause um ein paar Dinge kümmern. Unserem Kandidaten für den Bundestag ein Instrumentarium an die Hand geben, um die gegen ihn wirksamen Kräfte im Wahlkampf auszuschalten. Aber ich werde sicher bald wieder da sein. Falls Sie mich vermissen sollten, Erik, rufen Sie mich an.« Er gab mir eine Visitenkarte. Es war mir unangenehm vor Inez, und ich knickte sie und hielt sie in der geschlossenen Hand, die feucht wurde.
    »Oder wenn Sie Neuigkeiten für mich haben«, sagte Feldberg. »Könnte doch sein, nicht wahr«, sagte er zu Inez, die sich wieder umgedreht hatte und auf den Horizont sah, als sei er ein Bildschirm, »dass er im Gegensatz zu dir einfach ein offenes Wesen hat. Vielleicht nicht gerade herzlich, aber doch mit einem Gespür für Gerechtigkeit und einem Wissensdurst, wie es sich für einen so jungen Menschen gehört. Wie alt sind Sie noch mal, Erik? Neunzehn?«
    »Quatsch«, sagte ich. »Ich habe es Ihnen doch schon gesagt. Ich bin vierundachtzig geboren. Was ergibt das?«
    »Neunzehnhundertvierundachtzig.
Es war ein klarer kalter Tag im April, und die Uhren schlugen dreizehn.«
    »Falsch«, sagte ich. »Es war im Dezember.«
    »Er wird fünfundzwanzig, Inez.« Feldberg legte eine Hand auf ihre Lehne. »Das sind genau sechzehn Jahre. Ist dir das noch nicht aufgefallen? Und er ist schon richtig groß, ein echter Mann.«
    »Erik«, sagte Inez angespannt, »könntest du –«
    »Was soll denn dieser verspießerte Scheiß«, sagte ich zu Feldberg.
    »– könntest du unseren Gast zur Tür begleiten?«
    »Glauben Sie, Sie können hier groß rumposaunen, nur weil da mal was gelaufen ist mit Ihnen? Das ist ewig her. Urschleim! Pech für Sie!«
    »Erik«, sagte Inez.
    »Lassen Sie, Erik, ich finde den Weg«, sagte Feldberg. »Und machen Sie sich keine Sorgen, ich habe überhaupt kein Problem damit. Ihr zwei seid ein schönes Paar. Nicht wahr, Inez. Das findest du auch. Ist es nicht ein bisschen so wie nach Hause kommen? Wie zu sich selber finden? Ein bisschen Was-wäre-wenn?« Inez antwortete nicht. Im Gehen drehte sich Feldberg noch einmal um: »Willst du eigentlich, dass ich unserem Kandidaten was ausrichte?«
    »Verschwinde«, hatte Inez gesagt. »Das ist alles, was ich will.«
    Abflug! Verpiss dich! Mach dich dünn, du Arsch!
denke ich jetzt, im Benzingeruch der Fähre,
Chorkind war ein viel zu edles Wort für dich.
     
    Am nächsten Morgen konnten wir die Tordalke nicht finden. Inez hatte mich gegen sechs aus dem Schlaf geklopft. Sie stand auf dem Flur im Leuchtturm, und ich hatte die Tür noch nicht geöffnet, da hörte ich sie schon rufen: »Erik! Beeil dich! Du musst mir helfen! Wir müssen sie finden.«
    »Wen willst du finden?«
    »Friederike ist weg.«
    »Vielleicht hatte sie es satt, dauernd angeglotzt zu werden.«
    »Du würdest sie doch erkennen, oder?«, sagte Inez und rannte vor mir her. »Du weißt doch, wie sie aussieht. Du hast sie doch gesehen. Ich bin so nervös. Ich sehe sie einfach nicht.«
    Das Männchen saß wie immer geduldig im Nest. Es bebrütete ein Ei, das nie ausgebrütet werden würde, es machte trotzdem weiter. Auf dem Wasser unterhalb der Felsen wogten noch hunderte von Vögeln. Die Zeit des Lummensprungs war vorbei, die letzten Jungen würden bald anfangen

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