Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
paar Felsvorsprünge weiterzuziehen brauchen, und wir hätten sie in der dicht bevölkerten Kolonie nicht wiedergefunden. Aber sie war wieder aufgetaucht. Eines Morgens saß sie an ihrem alten Platz, und seitdem ging Inez häufig morgens hinaus zur Steinplatte, von der aus man den besten Blick hatte, und blieb dort, bis die Fähre einlief und es Zeit war, das Museum aufzuschließen.
    Nach dem Zwischenfall mit Guido verzichtete ich darauf, mit ihm ins Freiland zu gehen. Ich arbeitete entweder alleine oder mit Sonja, und manchmal nahm mich Inez morgens zu ihrer Tordalke mit. Sie breitete eine Regenplane aus, so dass es auf dem kalten Stein eine Weile auszuhalten war.
    Im Nest lag seit kurzem ein Ei. Aber die Alke kümmerte sich nicht darum, es zu bebrüten. Sie schien zu wissen, dass es zu spät war, weshalb sie das Brüten dem Männchen überließ. Mit einem Pulk anderer Vögel schoss sie durch die Luft. Als sie mit einem Fisch zurückkehrte und das Männchen ihn ihr aus dem Schnabel riss, watschelte sie ungerührt zum Felsrand, richtete sich flügelschlagend auf und legte den Kopf schief, als würde sie uns gerade entdecken. Sie stand mit dem Rücken zum Abgrund. Sie stand still und sah in unsere Richtung. Ihr schwarzes Gefieder glänzte. Wir saßen ebenfalls still. Und ich verstand, was Inez an dieser Alke so faszinierte. Man konnte den Eindruck haben, sie nehme Kontakt zu uns auf. Ihr Kopf ruckte, als versuche sie, uns besser zu sehen. Ihre Verbeugungen sahen wie Kommunikationsversuche aus. Und als sie genug hatte, hob sie ihre Schwanzfeder, zuckte noch einmal mit dem Kopf und brach wieder zu ihren
Wonneflügen
auf, wie Inez das nannte. Für mich sahen diese Flüge wie betrunken aus, als torkele der Vogel besoffen durch die Luft, von langgezogenen, erregten Schreien begleitet.
    Inez hatte das Spektiv aufgebaut. Die Alke verfolgte sie aber durchs Fernglas, das handlicher war. Besoffen oder nicht; für mich sahen die Tiere im Schwarm alle gleich aus. Aber Inez verlor die Alke nicht aus dem Blick. Wenn der Vogel einen scheinbar freien Fall abrupt und haarscharf vor der Wasseroberfläche abfing, atmete Inez laut aus.
    Nach einer Weile begann ich, Unterschiede zu erkennen. Hungrige Schreie klangen anders als ängstliche Schreie, Lockrufe, die den Jungvögeln galten, anders als die ekstatischen Schreie im
Wonneflug
. Ich versuchte, der Alke mit dem Spektiv zu folgen. Ich sah, wie sie sich hinunter aufs Wasser trudeln ließ zu denen, die dort schon waren und bei ihrer Ankunft aufstoben, ich sah den weißen Bauch aufleuchten, wenn die Sonne ihn traf. Ich sah die Tordalke im Pulk der Vögel verschwinden, die sich mit den Flügeln peitschend über die Wasseroberfläche trieben, ohne abzuheben, die mit den Bäuchen eine Welle mitnahmen und surften, die in Kreisen und Achten das Wasser entlangrasten und dabei manchmal mit Artgenossen kollidierten, woraufhin alle gemeinsam wie auf Kommando abtauchten und unter der Oberfläche weiterjagten.
    Wenn ich sie verlor, holte Inez sie mir wieder ins Bild. Ich sah, wie die Alke aufflog, um sich einem Schwarm anzuschließen, der sich pfeilförmig in den Himmel schraubte. Der Schwarm stieg immer höher, um weit oberhalb der Klippe am scheinbar höchsten erreichbaren Punkt in einer einzigen koordinierten Bewegung umzukehren und achterbahngleich in Richtung Wasser zu rauschen. Dem Sturz hingegeben hielt die Tordalke ihren mattschwarzen Kopf in die Geschwindigkeit hinein, ihren dicken schwarzen Schnabel, der auch im Spektiv jetzt nur undeutlich zu erkennen war, und stieg, ohne auf dem Wasser aufzusetzen, nach einer schnellen Kurve erneut senkrecht an der Felswand empor. Es sah kunstvoll aus und frei.
    Das Wasser glitzerte.
    Ich musste an den Palazzo denken. Die Wonneflüge der Tordalke hatten den gleichen Effekt auf mich wie der barocke Garten in der kargen Felslandschaft. Sie waren nicht ganz real.
    »Du hattest recht«, sagte ich. »Der Sommer macht diese Vögel ganz irre.« Ich rückte vom Spektiv ab, um Inez anzusehen. »Das kommt von dieser Landschaft. So wild und so sanft. Wie in Trance. Und wenn man dann mitten im Wald plötzlich vor einem italienischen Palazzo steht, denkt man, jetzt ist es vorbei, jetzt bist du wirklich verrückt geworden.«
    »Der Palazzo«, sagte Inez und verfolgte weiter den Flug der Alke. »Du meinst Muramaris. Dann bist du schon ganz schön rumgekommen.«
    »Ich hab’s zufällig entdeckt. Ich dachte, ich bin auf Drogen.«
    »Kennst du auch die

Weitere Kostenlose Bücher