Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
Vom Netzwerk:
diese Vögel niederknüppelt wurden, am nächsten kommt.« Inez zog die Telefonschnur lang. Ihre Hand zitterte. »Niedergeknüppelt, um Brennstoff aus ihren Knochen zu machen und Daunen aus den Federn. Niedergeknüppelt, weil die Methode am einfachsten und am billigsten ist bei Vögeln, die nicht wegfliegen können.«
    »Frau Rauter«, sagte der Vereinsvorsitzende mit aller Sanftheit, die er aufbringen konnte. »Beruhigen Sie sich. Wir haben es mit einer einzelnen Tordalke zu tun. Und niedergeknüppelt hat sie meines Wissens ja wohl niemand.«
    »Sie wurde mit einem toten Fisch gefüttert«, sagte Inez, »dessen aufgeschlitzter Bauch mit Tollkirschen vollgestopft war. Wahrscheinlich ein völlig natürlicher Tod, nach Ihrer Auffassung. Wahrscheinlich wurde der Fisch auf natürliche Weise erst über Land zu den Tollkirschen gelockt, um dann mit der hochdosierten Droge im Bauch, den er sich selbst aufschlitzte, in den Schnabel des Vogels zu springen.«
    »Die Natur bringt viele Dinge hervor, die wir nicht verstehen«, sagte der Vereinsvorsitzende schwach.
    »Sie haben recht. Das Aufschlitzen des Bauches wird dieser Fisch sicher im Rauschzustand bewerkstelligt haben.«
    »Ich bitte Sie!« Die Vereinsvorsitzende räusperte sich. »Es gibt tausend glückliche Vögel da draußen, die keine Drogenvergiftung haben. Und wir haben Ihnen bereits gesagt, Sie sollen sich um die Beseitigung der Rauschpflanzen kümmern!«
    »Vernichtung«, sagte Inez. »Ich soll mich um die
Vernichtung
dieser Pflanzen kümmern. Im Übrigen gehe ich davon aus, dass das letzte brütende Pärchen der Riesenalken von genau den Leuten getötet und an Sammler verkauft wurde, die die unpräzisen Formulierungen bevorzugen. Ihnen erscheint ein ausgestopfter Vogel doch auch viel natürlicher, oder nicht?«
    Sie legte übergangslos auf und sah das stumme Telefon an.
    »Das hört nie auf«, sagte sie und zog unvermittelt ihren Haargummi aus dem Haar, das sie zum Zopf gebunden hatte. Sie legte den Kopf nach hinten und schüttelte die Haare frei. »Ich habe noch keinen Mann gesehen, dem es nicht graut vor zu viel Leben, vor unkontrollierbarem Leben«, sagte sie ruhig, so ruhig, dass es mich erschreckte. »Auf die eine oder andere Weise muss er es töten. Und als Beweis seiner sinnlosen Herrschaft stellt er es sich ausgestopft oder verschleiert in die Wohnung. Und es sind immer Männer, Erik, immer!« Sie fasste die Haare mit beiden Händen zusammen und band sie neu.
    »Das ist nicht fair«, sagte ich.
    »Stimmt. Das ist alles andere als fair.«
     
    Ich bin nicht ahnungslos gewesen. Ich lief nicht monatelang wie ein Träumer herum. Im Juli. Im August. Es ist nicht wahr, dass ich nicht den geringsten Verdacht hatte.
    Jedenfalls kann ich es mir jetzt nicht mehr vorstellen. Außerdem ist es nie so gewesen, wie es in der Erinnerung den Anschein hat. Man erinnert sich nur lieber auf angenehme Weise. Die Wahrheit ist: Ich steckte in der Rolle des Suchenden fest.
    Vielleicht gefiel mir das. Vielleicht gefiel mir die Rolle so sehr, dass ich gar nichts finden wollte, dass ich das Naheliegende absichtlich übersah.
    Sie sind verliebt,
hatte Feldberg gesagt,
da ist das eine ganz natürliche Reaktion.
    Ich weiß nicht, ob ich damals schon auf die Idee kam, dass er nicht zufällig auf derselben Fähre gewesen sein könnte.
    Er hatte mich und die anderen Passagiere nicht aus Interesse angesehen, er hatte nicht bloß feststellen wollen, mit wem er da unterwegs war; eine Großfamilie, auf dem Arm das rotzverschmierte Kind, zwei Finninnen, ein Junge mit Rucksack. Ich weiß jetzt, dass Feldberg die anderen gemustert hatte, um mich zu täuschen, ein
wirkungsvolles ressourcenbewusstes Spiel,
wie er dazu sagen würde, das er spielte, um mir zu zeigen, dass er mich dort sitzen sah: auf der Fähre nach Stora Karlsö, ahnungslos auf dem Weg zu Inez.
    Ich habe nicht herausgefunden, ob er mir schon länger gefolgt war. Vielleicht war er mir durch ganz Gotland hinterhergefahren. Er hatte mich am Flughafen in Visby ankommen sehen und sich
an meine Fersen geheftet
, wie Inez Feldbergs Annäherungen einmal beschrieb.
    Visbys Flughafen hat die Größe eines Kleinstadtbahnhofs. Es gibt ein Bistro und zwei verglaste Warteräume, die Passagiere laufen zu Fuß über das Rollfeld zu den kleinen Propellermaschinen. Vom Flughafengebäude führt eine schmale, mit einem Weidezaun gesäumte Straße in die mittelalterliche Stadt. Wenn Feldberg vor dem Flughafen gewartet hatte, war es möglich, dass ich

Weitere Kostenlose Bücher