Sturz der Tage in die Nacht
Geschichte?«
»Nein.«
»Die Malerin, die Muramaris errichtet hat, war auch im Rausch. Sie war liebeskrank. Sie kam aus der Stockholmer Oberschicht und hatte sich in den viele Jahre jüngeren Lehrer ihres fünfjährigen Sohnes verliebt.«
»Und der wollte sie nicht.«
»Der wollte sie sogar sehr. Aber die Frau war verheira- tet. Wenn es rausgekommen wäre, hätte man sie aus der Stockholmer Gesellschaft verstoßen. So gehörte sich das zur vorletzten Jahrhundertwende. Also ist sie über die Ostsee gefahren und hat ihrer verbotenen Leidenschaft auf Gotland eine Villa errichtet. Und in den Garten hat sie die Skulptur der Liebesgöttin gestellt, an der du wahrscheinlich achtlos vorbeigelatscht bist.«
»Bin ich nicht«, sagte ich.
»Es war ein Exil.«
»Und ein Paradies.«
»So ist es.« Inez nahm das Fernglas herunter und sah mich an. »Für diese Frau lag es außerhalb von allem. Ein Ort des Reichtums, der Exstase und der völligen Verlorenheit.«
Ich hielt ihrem Blick stand.
»Sie hatte keine Bedenken wegen des Altersunterschieds«, sagte Inez. »Es gab nur die Sehnsucht.«
Sie sah mich immer noch an, und ich sah sie halbbekleidet auf der Freitreppe, wie sie ihr grasgrünes Tanktop auf den Mamor fallen lässt.
»Und während wir uns der Sehnsucht widmen«, sagte ich langsam, »was machen wir so lange mit deinem Sohn?«
»Wir schicken ihn spielen«, sagte Inez.
»Aber nicht in den Garten. Durch die großen Fenster könnte er uns sehen.«
»Dann schicken wir ihn runter an den Strand.«
»Das Kliff ist abschüssig.« Das Spiel begann mir Spaß zu machen. »Er könnte sich verlaufen.«
»Das ist mein Sohn«, sagte Inez, »der kennt sich aus.«
»Er ist gerade mal fünf!«
»Wenn du willst, schicken wir den Gärtner mit«, sagte Inez. »Es gibt doch immer einen Gärtner. Einen, der den Rasen mäht, die Rosen schneidet und sich um die Regentonne kümmert.« Sie sah am Spektiv vorbei auf das Wasser. »Ich glaube, wir haben sie verloren.« Sie drehte mir das Gerät zu. »Schau du mal. Es sind so viele. Ich kann unsere alte Dame von den anderen nicht mehr unterscheiden.«
Diese Tordalke war es, die Rainer Feldberg für seine Botschaft ausgewählt hatte. Eines Abends war er zu uns auf das Plateau gekommen. Sein Zimmer lag auf der anderen Seite des Gebäudes, aber wenn er den Leuchtturm verließ, konnte er unsere Stühle von der Vortreppe aus sehen. Es war ein schwülwarmer Abend.
»Achtung«, sagte ich zu Inez. »Dein spezieller Freund ist im Anmarsch.«
Inez und ich hatten über Guido gesprochen, der mich mied, der die Praktikantin losschickte, wenn er etwas von mir wollte, und sich, wenn wir zufällig im selben Zimmer waren, die Ohren mit einem iPod verstöpselte. Ich war froh, dass die Saison bald zu Ende ging und wir dann allein bleiben würden, Inez und ich. Ab der letzten Augustwoche wurden Touristen nur noch im Ausnahmefall auf die Insel gelassen, aber Inez war es erlaubt, bis Ende September zu bleiben. Und da ich nicht vorhatte, früher als sie abzureisen, würde sie nicht einsam sein.
»Na? Noch die letzten Sonnenstrahlen mitnehmen?«, sagte Feldberg. Er streckte sich, gähnte und rückte seine Mütze zurecht. »Schön habt ihr’s hier. Schöner Blick! Von meinem Fenster aus sieht man nur Kraut und Rüben.«
Inez hatte gesagt, dass die Schweden nie einsam wurden, es sei denn unter Menschen, und sie hatte mir einen Witz erzählt. Sie hatte den Witz vom Kapitän der Fähre gehört, und ich sagte zu Feldberg: »Kennen Sie den schon? Ein Schwede wird von einem Ausländer gefragt, ob ihm nicht irgendwann langweilig wird so allein in seiner
stuga
mitten in der Natur, wo die nächsten Nachbarn zwanzig Kilometer entfernt sind. Darauf sagt der Schwede: ›Im Sommer vermehren wir uns und fischen. Aber im Winter können wir nicht fischen.‹«
Inez fing wieder an zu lachen, und Feldberg sah mich abwartend an. »Das war’s schon«, sagte ich. »Da kommt nichts mehr.«
»Ach so«, sagte Feldberg.
»Wenn du mal ein garantiert humorfreies Gespräch führen willst, brauchst du dich nur mit dem Schnüffler hier zu unterhalten«, sagte Inez zu mir.
»Die deutsche Komik liegt mir mehr«, sagte Feldberg.
»Die auf Kosten anderer geht«, sagte Inez immer noch zu mir. »Auf Kosten ihrer Schwächen. Unser Spürhund will sagen, dass er sich am besten amüsiert, wenn Leute gedemütigt werden.«
»Holen Sie sich doch einen Stuhl«, sagte ich.
»Nein«, sagte Inez. »Wenn du dich mit ihm unterhalten
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