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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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einen Ausflug mit dem Fahrrad gemacht. Eine Freundin hatte mitkommen wollen, dann abgesagt, und schließlich war Inez mit zwei geschmierten Stullen und einem Apfel im Rucksack allein losgefahren. Sie drehte eine Runde am Bodden, das Wetter war heiß, aber luftig, und auf dem Rückweg radelte sie durch Wieck und dann an der Ryck entlang zum Fischereihafen, um den Männern auf den Fischerbooten ein paar Makrelen abzuschwatzen.
    Sie stieg ab und lehnte ihr Fahrrad gegen einen Boller, als sie jemanden rufen hörte: »Wenn das nicht Lass-mich-runter vom Spielplatz ist!«
    Sie erkannte die Stimme sofort. Ihn erkannte sie nicht sofort, weil es beim letzten Mal dunkel gewesen war und er jetzt im grellen Sonnenlicht am Geländer der Holzzugbrücke stand. Er trug kurze blaue Hosen, die mal eine lange Niethose gewesen waren und an den Oberschenkeln Fransen zogen. Mit seinem zerschlissenen T-Shirt und dem verwirbelten Haar sah er wilder aus, als sie ihn in Erinnerung hatte.
    »Komm lieber von der Brücke runter. Nicht, dass sie aufgeht und du wieder oben hängst«, sagte Felix Ton. »Aber ich bin ja da, falls du einen Retter brauchst.«
    »Ritter«, sagte Inez. »Ich würde wenn, dann einen Ritter brauchen.«
    Er pfiff durch die Zähne. »Mein Kumpel holt grad was zu futtern«, sagte er. »Oder gruselst du dich vor Fischköppen?«
    »Ich mag Fischköppe.«
    Rainer Feldberg tauchte am Ende der Zugbrücke auf, er trug ein Päckchen in der Hand und rauchte. »Sprotten«, sagte er, »hab meine Beziehungen spielen lassen.«
    »Deine Beziehungen oder dein Parteibuch?«, sagte Felix Ton.
    »Siehst du, was das für ein Affe ist«, sagte Feldberg zu Inez. »Ich würde aufpassen, mit wem ich mich einlasse.« Er hatte es locker gesagt, wie zum Scherz, aber sein Gesicht war ohne Regung gewesen. Er sah sie ausdruckslos an, er fixierte sie, bis sie weggucken musste.
    »Vielleicht werde ich auf der Wilhelm Pieck anheuern«, sagte Felix Ton und lachte. »Die Weltmeere besegeln. Und du«, sagte er zu Rainer Feldberg. »Was wirst du nach dem Sommer machen?«
    »Was soll ich schon machen? Ich bin Facharbeiter.«
    »Klasse! Facharbeiter ist ja enorm aufregend! Ich meine, wenn du dir was aussuchen könntest. Was würdest du machen?«
    »Ich habe mir genau das ausgesucht«, sagte Feldberg und ließ sein Feuerzeug schnappen.
    »Mann, Rainer! Ohne ’n paar verrückte Ideen kriegen wir das Leben doch nie rum. Oder?«, sagte er zu Inez. »Also, Kumpel, merk dir was: Wenn du die Frauen nicht ein bisschen unterhältst, dann wird das nix.«
    Als Inez wieder hingesehen hatte, sah Rainer Feldberg sie immer noch an. Die Augen graublau. Ohne mit der Wimper zu zucken.
    Auch im Klubhaus war er dabei. An jenem Abend, an dem die ganze Stadt da war, die ganze Stadt und Felix Ton, Ende August 1983. Es war ein Abend, an dem der Sommer schon am Verlöschen war, an dem er noch einmal aufflammte mit der ganzen Hitze und Trockenheit abgeernteter Felder, dem splissigen Staub, der durch die Straßen bis in die Hausflure zog und Lippen und Münder so austrocknete, dass der Speichel beim Spucken in der Luft zerstäubte, ein Abend, an dem die Kühle des Herbstes unter der Hitze schon zu ahnen war, vielleicht hatte der Wind gedreht und brachte eine salzige Schärfe von der Ostsee mit, vielleicht bewirkte er jene Unruhe, die die Leute lauter reden, mutwillig gegen Papierkörbe treten, Flaschen zerschlagen und sich nach dumpfer, ekstatischer Abwechslung sehnen ließ, versessen darauf, die ganze gespeicherte Energie des Sommers gegen sein bevorstehendes Ende aufzubieten. Inez erinnerte sich in allen Einzelheiten daran, wie ein Mecklenburger Sommer verlischt.
    Sie saßen zu zweit an der Bar, Feldberg und Ton. Die überflüssigen Jacken hatten sie unter sich auf den Barhocker geklemmt. Eine Diskokugel sprühte Licht durch den Raum. Die runden Silberaschenbecher an den Eingängen zum Saal waren übervoll und stanken, obwohl die Saaltüren geöffnet waren.
    Sie hatten jeder ein Bier vor sich, zwei leere Schnapsgläser, eine noch unangebrochene Flasche Sekt, und von dem Sekt boten sie Inez an.
    »Ich trinke nicht«, sagte sie. Damals war Rainer Feldberg das Einzige gewesen, was sie an Felix Ton gestört hatte.
    »Mensch«, sagte Felix Ton. »Das Leben dauert viel zu lange, um nicht zu trinken.« Und gleich darauf, als ihre Eltern zur Bar herüberkamen: »Herr Rauter, Frau Rauter, das ist mein Kollege Feldberg. Wurde es nicht Zeit, dass die Arbeiterfestspiele mal bei uns

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