Sturz der Tage in die Nacht
stattfinden?«
»Die Herrschaften kennen sich?«, sagte Feldberg und stand auf, um ihrer Mutter seinen Barhocker anzubieten.
»Komm«, sagte ihr Vater.
»Es ist noch nicht mal Mitternacht! Außerdem ist mein Geburtstag. Und wir wollten gerade was trinken.«
»Wir passen gut auf sie auf, Herr Rauter, wir liefern Ihre Tochter pünktlich zu Hause ab.«
»Meine Tochter ist fünfzehn.«
»Gratuliere.« Felix Ton hatte sich über die Bar gebeugt und ein Glas aus dem Abtrockenkorb gefischt. Es war ein Saftglas, und er stellte es vor Inez hin und goss es voll bis zum Rand. »Ein Schlückchen Sekt hat noch keinem geschadet.«
»Hoffentlich spielen sie nicht gleich wieder Marschmusik«, sagte sie.
»Inez. Ich möchte, dass du auf der Stelle mitkommst.«
»Herr Rauter, trinken Sie einen mit auf den Geburtstag Ihrer Tochter. Sie ist nie wieder so jung.« Felix Ton hatte zwei weitere Gläser aus dem Korb genommen.
»Marschmusik geht mir wirklich auf die Nerven«, sagte Inez. »Vor allem sozialistische.«
»Inez!«
»Junge Leute interessieren sich eben mehr für Chansons«, hatte ihre Mutter leichthin gesagt, Rainer Feldberg für das Angebot seines Barhockers dankend zugenickt und sich bei ihrem Mann eingehängt. »Aber es wird jetzt wirklich Zeit. Wir waren gerade im Aufbruch.«
»Du meinst wegen der süßlichen Komponente, die Mädchen in meinem Alter anspricht«, hatte Inez gesagt. »Deswegen interessiere ich mich mehr für Chansons?«
Felix Ton lachte.
»Weil nur Mädchen wie ich noch diese bourgeoisen Hoffnungen hegen, dass ein Ritter sie nach Hause bringt?«
Felix Ton lachte noch mehr, und das hatte ihr gefallen, sein freies, ungezwungenes Lachen und dass er sich nichts daraus machte, wie unpassend sie sich benahm, und ihren Unsinn sogar mochte, den sie nur erzählte, weil sie es hasste, vor ihm als Töchterchen dazustehen.
Auf der Zugbrücke in Wieck hatte er sie geschnappt, sich wie einen Sack über die Schulter geworfen und sie singend über den Kai getragen, an den johlenden Fischern vorbei, und auch das hatte sie gemocht. Seine Leichtigkeit und wie er ihr zum Abschied die Hand küsste.
»Sie haben ein intelligentes Kind«, hatte Rainer Feldberg an der Bar zu ihren Eltern gesagt. Er hatte sie nicht aus den Augen gelassen.
»Intelligenter jedenfalls als das Gesockse, mit dem man es täglich zu tun hat«, hörte Inez Felix Ton sagen, als sie hinter ihren Eltern her zur Saaltür ging.
»Du hast den Sinn der Nutzung solcher Personen, die du Gesockse nennst, noch nicht ganz kapiert«, hatte Rainer Feldberg geantwortet.
Als er nach Stora Karlsö kam, hatte er längst den Beruf gewechselt, und bestimmte Dinge sagte er nicht mehr. Aber Inez war sich sicher, dass Feldberg noch genau in diesen Begriffen dachte.
»Beweise mir das mal«, hatte er zu ihr gesagt.
Sie lag auf dem Bett ihrer Hütte, und alles war wieder da. Der Spielplatz war wieder da und die Brücke in Wieck. Das Fahrrad, an einen Boller gelehnt. Ton mit seiner großen Klappe, das Glühen der Zigarette und wie sie sternschnuppengleich zu Boden fiel. Da waren auch die Fischer in ihren Booten und die Schlaufen seiner kurzen Jeans, die sich in ihre Finger schnitten, als sie auf seinem Rücken hing und versuchte, sich an ihm festzuhalten.
Und sein Geruch war wieder da. Ein Geruch nach frischem Holz, Spee und nach etwas Herb-Salzigem. Dieser erste Geruch, den sie vergessen geglaubt hatte und den sie jetzt, nach so vielen Jahren, deutlich wahrnahm. Dieser frühe, so anziehende Geruch von Felix Ton.
Da war der Abend im Klubhaus, an dem sie widerwillig nach Hause gegangen war. Durch den Erntegeruch und den Biergeruch und den fauligen Geruch, der von der Greifswalder Bucht herüberzog, ging sie hinter ihren Eltern her. Sie hätte sich lieber umgedreht und wäre zurückgerannt in den Saal, hätte den Ellbogen kühn auf dem Tresen platziert und die Hand mit dem leeren Saftglas zu Felix Ton hinübergeschoben.
»Inez, hör auf zu bummeln, es ist spät«, hatte ihre Mutter gesagt. »Morgen in der Schule hängst du wieder durch.«
Sie wollte neben ihm an der Bar stehen und ihm zutrinken, seinem Lachen, seinem Spott über die Leute, sie wollte nicht nach Hause in ihr kleines Zimmer gehen, in ihr aus der Wand klappbares Bett neben dem grauen Kasten der Fernheizung.
In diesem Sommer, als sie fünfzehn geworden war.
Ihr Vater hatte geklopft und vorsichtig die Tür geöffnet.
»Bist du noch wach?«
»Kommt drauf an.«
»In ein paar Jahren kannst du
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