Sturz der Tage in die Nacht
hatte, auf diesem schmalen Studentenbett zu sitzen, neben diesem Mann, der seine Hände zielstrebig über ihren Körper gleiten ließ zu Kuschelrock aus dem Kofferradio. Sie konnte nicht sagen, ob sie glücklich gewesen war.
Über das Ende ihres Traums mit dem Arara hatte sie später oft nachgedacht. Sie hatte darüber nachgedacht, bis sich das Traumbild abnutzte, bis es aussah, als sei es von Fingerabdrücken, Flecken und Eselsohren besudelt, obwohl es nur in ihrer Vorstellung existierte; die Drähte unter den Schwingen des Vogels. Es war ihr unverständlich, dass es eine Zeit gegeben hatte, in der sie die Bedeutung dieses Endes nicht begriff.
Vieles war ihr später unverständlich erschienen. Beispielsweise war es ihr unverständlich, dass sie ihrem Vater nicht zugehört hatte, als er ihr eines Tages erzählte, Felix Ton sei bei ihm gewesen. Er sei bei ihm gewesen und habe zu ihm gesagt:
Begeben Sie sich in die Rolle des Wahrheit Suchenden! Das sind Sie sich und unserem Land schuldig.
Wenige Wochen, nachdem sie und Felix ein Paar geworden waren.
Ihr Vater war gerade dabei gewesen, sich für einen Waldlauf fertig zu machen. Er war in Turnhose und Trikot zur Wohnungstür gegangen, vor der Felix Ton mit einer Aktentasche unter dem Arm gestanden und darum gebeten hatte, hereingelassen zu werden. Ihr Vater hatte ihn ins Wohnzimmer geführt, und zu ihr hatte er gesagt, dass er seit dem Abend im Klubhaus über den Jungen mit dem wilden Haar habe nachdenken müssen und sich nicht sicher sei, ob der Jahrgang, zu dem dieser Schüler gehört hatte, acht oder zehn Jahre zurückliege.
»Sie laufen immer noch jeden zweiten Tag, was?«, hatte Felix Ton gefragt.
»Leider nur noch einmal die Woche. Mir fehlt so ein Heißsporn wie Sie, der mich ein bisschen herausfordert.«
»Ich studiere noch«, hatte Ton gesagt. »Aber der Heißsporn hat es schon zu einem Wartburg gebracht. Na ja. Es ist fast meiner. Das hätten Sie nicht gedacht, was, dass ich noch mal anständig werde?«
Ihrem Vater war aufgefallen, dass er nichts zu trinken angeboten hatte. Und als er aufstehen wollte, um eine Cola oder ein Bier vom Balkon zu holen, habe er einen Widerstand gespürt, hatte er zu Inez gesagt, einen Widerstand, der mit dem Wartburg zusammenhängen konnte, den ein junger Mann unter normalen Umständen nicht besaß, und damit, dass er sich in seinen kurzen Turnhosen auf einmal angreifbar vorkam. Er habe versucht, sich zu beruhigen. Er habe sich eingeredet, dass er später beim Laufen Seitenstechen bekäme, wenn er jetzt etwas mit Felix Ton trinken würde.
»Sie sind ein Mensch mit einem ungezügelten Charakter, Felix«, hatte ihr Vater gesagt. »Aber ich habe Sie immer gemocht. Ich wusste, wenn Sie mal hinaus ins Leben gehen, dann haben Sie nur zwei Möglichkeiten. Sie werden es sich selber schwermachen und dafür am Ende etwas Großartiges fertigbringen, etwas, wofür den meisten Menschen die Kraft fehlt. Oder Sie werden es sich nicht so schwermachen.«
Felix Ton hatte gesagt: »Sie waren immer mein bester Lehrer, Herr Rauter.«
»Das hört man gern.«
»Ich möchte Sie auf meiner Seite haben.«
»Das haben Sie, Felix. Sie hatten immer meine volle Unterstützung.«
Felix Ton hatte am Schnappverschluss der Aktentasche gespielt, die er bei sich hatte, sie aber nicht geöffnet. »Wissen Sie noch«, sagte er, »was Sie damals zu diesem Marterpfahl sagten? Der Pfosten der Selbstkritik!«
Das Ereignis mit dem Marterpfahl hatte sich ihr Vater nicht erst vor Augen rufen müssen. Es war mit der Gegenwart dieses Jungen verbunden, ob es nun acht oder zehn Jahre zurücklag.
»Ich musste Sie ja irgendwie raushauen. Sie hatten sich in eine missliche Lage gebracht. Und ich konnte doch nicht mit ansehen, wie einer meiner besten Schüler von der Schule fliegt.«
»Pfosten der Selbstkritik!« Felix Ton hatte gelacht. »Da haben die Heinis vom Kreisschulrat aber geglotzt, da ist denen glatt die Spucke weggeblieben, diesen Kanaillen!«
»Besser wäre es gewesen, Sie hätten Ihre überschüssige Energie woanders ausgetobt. Nicht gerade an einem Ihrer Mitschüler.«
»Das war unter Kumpels. Ich habe ihn ein bisschen gekitzelt. Ich hatte nicht vor, ihm was zu tun.«
»Sie haben ihn an einen Baum gefesselt!«
»Herr Rauter, jetzt nehmen Sie nicht alles zurück. Sie haben mir beigestanden, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür. Außerdem waren das Schnürsenkel. Wie lange halten aneinandergebundene Schnürsenkel einen kräftigen Jungen wohl
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