Sturz der Tage in die Nacht
aus?«
Felix Ton hatte ihren Vater angesehen. »Dass Sie aber auch auf so was gekommen sind!« Wieder hatte er gelacht. »Dieses Ding mit der Selbstkritik. Wie Sie meinen Jungsstreich in den Politjargon des Kreisschulrats übersetzt haben. Das konnten die ja gar nicht abschmettern. Sonst hätten die am Ende auch noch Selbstkritik üben müssen vor ihrem Politoffizier.«
»Ich hätte Ihre Eltern zwingen müssen, zu der Aussprache mit Ihnen zu erscheinen.«
»Sie waren doch bei uns zum Elternbesuch.«
»Es hätte noch andere Mittel gegeben.«
»Dem ist nun mal nicht so gewesen«, hatte Felix Ton nach kurzem Zögern gesagt und an den Fransen der Tischdecke gezupft. Es waren lange, blaue, vom Waschen zersplissene Fransen. Auf ihren Vater hatte Ton in diesem Moment einen geknickten Eindruck gemacht. Er hatte überlegt, wie er diesen Jungen aufmuntern konnte, den er fünf Jahre lang unterrichtet hatte, in einer schwierigen Zeit, in der Zeit, als er aus der Pubertät herausgewachsen, aber noch nicht ganz im Erwachsenenleben angekommen war, in dieser schwebenden Zwischenphase, in der es sich manchmal schon entschied, ob man es sich schwer oder lieber leichter machen würde.
»Mal ehrlich, Herr Rauter«, hatte Felix Ton da gesagt und in seinen früheren Schwung zurückgefunden, »das Leben ist viel zu lang, als dass Eltern einen Einfluss drauf hätten. Ihre Familie mal ausgenommen. Pfosten der Selbstkritik«, hatte er dann gesagt und gelacht, »das war wirklich der Hammer. Wie Sie dieses, wie soll ich sagen: imperialistische Symbol des Marterpfahls in einem für mich günstigen Licht erscheinen ließen. Am Ende haben alle geglaubt, ich sei nur übereifrig meiner vorbildlichen Gesinnung gefolgt. Wissen Sie, was ich darin sehe? Echtes Talent.«
Ihrem Vater war der Gedanke gekommen, dass dieser Junge es sich vielleicht ganz leicht machte.
»Felix«, hatte er gesagt. »Warum sind Sie hier.«
Felix Ton hatte sich aufrecht hingesetzt. »Sie waren immer mein bester Lehrer, Herr Rauter.« Er hatte ihren Vater fixiert, ohne ihm in die Augen zu sehen. »Begeben Sie sich in die Rolle des Wahrheit Suchenden«, hatte er dann mit veränderter Stimme gesagt. »Das sind Sie sich und unserem Land schuldig.«
Inez schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Sie blieb eine Weile auf dem Bettrand sitzen. Als das Schwindelgefühl nachließ, stand sie auf und ging langsam in die Küche. Sie füllte sich ein Glas Leitungswasser ab. Der Fußboden war kalt unter ihren nackten Füßen, draußen zogen rotleuchtende Streifen über den Abendhimmel. Es war angenehm, hier zu stehen. Sie trank ein zweites Glas Wasser.
Die Person, die sie mit fünfzehn oder sechzehn gewesen war, ließ sich nicht mehr aufspüren. Da half auch kein Fieber. Und nur dann, nur wenn sie in diese Person von damals noch einmal hätte hineinschlüpfen können, hätte sie vielleicht auch sagen können, ob sie glücklich gewesen war.
Inez ging zurück ins Bett. Sie legte sich auf die Seite und zog die Knie an den Bauch. Es war still. Der Wind hatte nachgelassen. Sie dachte an das, was ihr Vater erzählt hatte und wie sie damals schulterzuckend aus dem Zimmer gegangen war, und sie fragte sich, ob ihm eines Tages der Gedanke gekommen sei, daß er bei diesem Schüler einen Fehler gemacht hatte. Auf diesen Gedanken konnte man kommen, dachte Inez. Sie drehte das Kopfkissen mit der kühlen Seite nach oben. Sie versuchte einzuschlafen. Als sie beinahe eingeschlafen war, diesmal ruhiger und ohne Hitzeschübe, fiel ihr etwas ein, das sich mit dem Alter von sechzehn doch noch auf eine besondere Weise verband. Es handelte sich nicht um ein Gefühl, wie sie nach Feldbergs Anspielung vermutet hatte, sondern um ein Wissen, das man zu einem bestimmten Zeitpunkt des Lebens auf einmal hat.
Vor ihrem sechzehnten Lebensjahr hatte sie nicht gewusst, dass ein Hund sich auf ähnliche Weise erniedrigen kann wie ein Mensch. Sie hatte das in Feldbergs Datsche gelernt, in die er ein paar Freunde zum Grillen eingeladen hatte. Im September 1984.
Felix Ton hatte sich angewöhnt, die Wochenenden in Greifswald zu verbringen. Er hatte sich bei Feldberg einquartiert. Die Wohnung seiner Eltern kam nicht in Frage, und Feldberg, der eine Zweiraumwohnung hatte, ließ ihn auf dem Sofa schlafen. So oft es ging, traf er sich mit ihr; Treffen, die, wie sie damals nicht wusste, ein ständiger Streitpunkt zwischen Feldberg und Ton waren. Aber Felix hatte Übung im Umgang mit Sticheleien und schlechter
Weitere Kostenlose Bücher