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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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seinem Bauch lag. »Maschin kaputt.«
    Es war dunkel gewesen bis auf den erleuchteten Streifen der Stadt in der Ferne. Am Himmel hing ein Stück Mond. Sein Fenster stand halb offen, und man hörte Grillen im Gras der Böschung. Am Ellbogen spürte sie das flauschige Kunstfell der Schonbezüge, unterhalb des Ellbogens begann sein Körper. Ihr fiel keine passende Entgegnung ein.
    Den ganzen Abend hatte sie diesen Übermut verspürt, ein Glucksen im Hals, das immer wieder aufstieg und ausbrach bei allem, was Felix ihr erzählte oder sie ihm oder was sie beide wildfremden Leuten über Tischtelefon erzählten, bis sich jemand beschweren gegangen war.
    »Beleidigen Sie nicht meine Braut«, hatte Felix dem Einlasser gesagt, der bezweifelte, dass Inez schon achtzehn war, und sie auch, nachdem sie kurzerhand in den Verlobtenstand versetzt worden war, nicht hineinlassen wollte, weil das ein Nachtklub war und in einem Nachtklub nur – »Halt mal die Luft an, Mensch«, sagte Felix Ton und tippte ihn vor die Brust. »Du willst doch nicht, dass dein Nachtklub Volkseigentum wird, oder?«
    Sie setzten sich an einen der kleinen, eckigen Tische an der Wand. Es gab eine Flasche Sekt im Kühler, ein rosafarbenes Telefon, die Lampenschirme sahen aus wie Faltenröcke aus Papier. Inez hatte ihn gefragt, woher er wisse, dass dieser Klub privat betrieben werde. »Guck dir die Kaffeetassen an«, hatte er gesagt. »Ist das HO oder Mitropa?«
    »Das ist ja die reinste Bourgeoisie«, hatte Inez empört gerufen und sich bemüht, das Wort übertrieben französisch klingen zu lassen, und so hatte es angefangen. Sie war zum ersten Mal in einer Lokalität mit Tischtelefon und wollte unbedingt wissen, wie man es benutzte.
    »Ich hätte gern mit Madame Pompadour neben Ihnen gesprochen«, hatte sie zum männlichen Teil eines steifen Ehepaars gesagt, »ich glaube, ihr Büstenhalter hängt schief.«
    Einer Frau mit Kaltwelle flüsterte sie zu, eine gewisse Marie-Claire habe ihr verwanztes Höschen in die Jackentasche ihres Mannes gesteckt und sie solle es doch unauffällig in die Reinigung tragen. Als Felix die Nummer einer Gruppe Männer wählte und ihr den Hörer hinhielt, sagte sie zackig: »Messieurs, hier spricht die Partei: Ihr Hosenstall ist auf.« Einem Offizier raunte sie hastig zu: »Beschütz mich vor der Pershing, mon amour«, einer aufgetakelten Gattin sagte sie, ihr Schmuck funkele imperialistisch durch den Raum, und wenn eine der Frauen pampig wurde, rief sie: »Merci, du Kuh!« in den Hörer und legte auf.
    »Wie kommt es, dass du so perfekt französisch sprichst?«, hatte Felix gefragt, und sie hatte in den nächsten Lachkrampf hinein gesagt, das liege an dieser Sängerin mit Topfschnitt, und jetzt saß sie im Dunkeln neben ihm im Auto, und ihr fiel nichts ein. Auch er sagte nichts. Er sah aus dem Fenster, als würde der Mond dort einen Auftritt haben. Und dann fing er an, ihren Arm zu streicheln. Zuerst streichelte er nur das Gebiet, das auf seinen Körper hinüberragte. Später wagte er sich weiter hinauf.
    Als er sie vor der Haustür absetzte, war es drei Uhr nachts. Der Wohnblock war unbeleuchtet.
    Sie drückte die Autotür zu und legte die Handflächen kurz an die Fensterscheibe. Das konnte
Stopp!
heißen oder
Ich ergebe mich
, und selbst Inez hatte in diesem Moment nicht gewusst, was sie meinte.
    Auch in den folgenden Wochen war sie jedesmal ins Schwanken geraten, wenn Felix Ton sie nach Hause brachte.
    Stopp!
oder
Ich ergebe mich
.
    Sie sah das Auto hinter den Bäumen verschwinden und bereute es, ihn nicht länger umarmt, ihm nicht ernster in die Augen gesehen, auf seinen Kuss nicht deutlicher reagiert zu haben, ein Kuss, den sie mit geschlossenen Lippen erwiderte.
    Sie bereute es, ihn nicht gefragt zu haben, ob er mit ihr schlafe. Denn so stellte sie sich das vor: Sie würde fragen. Sie hatte Angst und keine Erfahrung, und ihre Frage würde das verschleiern.
    Wenn sie zu ihm ins Auto stieg, kam sie sich wie eine Vagabundin vor. Im Auto lagerte alles, was man brauchte, um jederzeit aufbrechen zu können und nicht zurückzukommen. Er fuhr eine komplette Ausrüstung mit sich herum; Luftmatratze, Schlafsack, Bierflaschen und ein Zelt. Auf den Rücksitzen lagen ein Paar Turnschuhe, eine Regenjacke, einige Reclambüchlein,
Tauschware, man kann nie wissen
.
    »Wer würdest du sein wollen?«, fragte er sie einmal. »Mal angenommen, du könntest sein, wer immer du willst.«
    Felix war der schillernde bunte Vogel, der Arara, der auf einem

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