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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Poster an der Wand ihres Zimmers hing und von dem sie eines Nachts träumte.
    Der Arara saß zutraulich auf einer Wiese, das Gefieder geplustert, den Kopf gereckt, ein majestätisches Tier. Seine Federn leuchteten in Türkis und Orange. Sie lief auf ihn zu, aber als sie ihn fast erreicht hatte, flog er auf. Er schwang sich von ihr weg. Ein paar Meter weiter wartete er auf sie, bis sie ihm so nah kam, dass sie ihn beinahe berühren konnte, und hob wieder ab. Auf diese Weise querten sie die Wiese. Der Arara schwebte mit windgetragenen Sprüngen vor ihr her, ließ sich nieder, flog auf, bis das Bild sich weitete und sie sich von oben sah; wie sie einem schillernden Vogel hinterherlief, der von Drähten geführt wurde, die an einem Brückenkran befestigt waren. Der Kran überspannte die Wiese. Es war nicht der Wind gewesen, der ihm die Flügel aufgeklappt hatte, sondern eine Fernsteuerung, und mit diesem Ende war sie nicht einverstanden gewesen.
    »Alles«, sagte sie zu Felix. »Ich würde alles sein wollen. Jeden Tag etwas anderes.«
    »In Ordnung. Womit fangen wir an?«
     
    Inez lag auf dem Bett.
    Sie hörte den Wind und den Sand, der mit dem Wind über die Felssteine wischte. Sie hörte, wie es den Sand in gelben körnigen Schlägen gegen das untere Ende der Regenrinne trieb. Sie hörte, wie der Wind den Sand vom Hügel abtrug, unter dem die Tordalke lag, und wie sich die Tordalke aufrichtete, mit den Flügeln peitschte und davonflog für immer.
    Die Zweige des Ginsters kratzten auf dem Fensterbrett. Und dieses Kratzen war es, das sie schließlich weckte. Ihre Hände waren heiß, ihr Mund war trocken. Der Junge hatte schon lange aufgehört zu rufen. Sie vermisste ihn. Sie vermisste seine Stimme. Sie vermisste seinen Körper, seine Anwesenheit. Sie war überrascht, wie stark das war. Sie hörte nach draußen. Aber da war nichts, nur die Schläge des Sandes, ein paar Blätter trieben vorm Fenster vorbei. Die Geräusche vermischten sich mit der nächsten Fieberwelle, die einen intensiven Herbstgeruch mit sich brachte.
    Sie lag in ihrer Hütte und war ungeschützt.
    »Wir sind für was Großes gemacht!«, hatte Felix Ton gesagt. Er stand auf einer Straße in Berlin. Er schrie in den Herbstwind zu ihr herüber. Im Oktober 1983. Sie waren längst ein Paar, eines, das Ausflüge zu verfallenen Kirchen machte, sich in Hausfluren und im Kino küsste, eines, das am Bodden spazieren ging und sich gegenseitig die Hände unter die Kleidung schob, und manchmal musste sie ihn bremsen.
    Er war mit ihr nach Berlin gefahren, um ihr sein Institut zu zeigen. Sie wollten in der Mensa etwas trinken, aber die Mensa hatte schon zu. Sie liefen lange durch Karlshorst und suchten eine Gaststätte. Einmal ließ sie seine Hand los und rannte auf die Gleise der Straßenbahn. Sie balancierte auf den Schienen und hielt ihr Gesicht in den Regen.
    »Weißt du, warum ich mit dir zusammen bin?«, rief sie ihm zu.
    »Weil du mich liebst.«
    »Quatsch!«
    »Weil du nicht anders kannst.«
    »Schon besser.«
    »Weil wir für was Großes gemacht sind?« Felix Ton war auf dem Gehweg geblieben, hielt aber den Schirm in die Höhe wie ein Seiltänzer.
    »Was Großes, genau! Und der Rest ist Jux und Dollerei!« Sie sprang von der Schiene. »Nur mein Vater kapiert das nicht.«
    »Er hat dir erlaubt, mit mir wegzufahren«, sagte Felix Ton, als sie wieder neben ihm war.
    »Hat er nicht. Ich hab’s mir selbst erlaubt.«
    Sie hatten keine Gaststätte gefunden, nur eine Kneipe, in der zwei Angetrunkene am Tresen saßen. Aber Kaffee gab es und Bockwurst mit Brötchen, und auch wenn das nicht der Gipfel der Romantik war, nicht so jedenfalls, wie sie sich das auf der Fahrt ausgemalt hatte, kein Lokal mit Kristalllüstern und schweren Vorhängen und Kellnern, die einen platzierten, war es doch eigentlich gut. Die Bockwurst knackte, und der Saft spritzte heraus, und Felix wollte einen Kognak zum Kaffee trinken, und sie wollte auch.
    »Dein Vater«, sagte Felix Ton später, als sie in seiner Studentenbude saßen und er die Flasche aufschraubte, die er der Tresenkraft abgetrotzt hatte, »das ist ein guter Typ.«
    Er goss den Kognak in Kaffeetassen, die am Boden dunkle Ränder hatten.
    »Ja?«, sagte sie. »Manchmal ist er total stur. Wenn ich mich nicht meinem Alter entsprechend verhalte und zu spät von einer
Tanzveranstaltung
nach Hause komme, schaltet er auf Durchzug.«
    Ton lachte. Er drehte den Flaschenverschluss zwischen den Fingern. Er sagte nichts.
    »Hast du etwa

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