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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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Moment damals, kurz nach neunzehn Uhr am neunten November, in seinem halbdunklen, nach Linoleum und Zigarettenasche riechenden Büro, wäre er gern einer dieser Vollbärte gewesen, die jetzt von ihren Bratkartoffeln aufsahen, ihre melancholischen Glubschaugen aufrissen, aufsprangen und sich die Parkas überwarfen. Dort ging jetzt etwas los, während hier die Energie abgezogen wurde. Er hatte es gespürt. Er war mitten im Raum zwischen Schreibtisch und Heizung stehengeblieben und spürte, wie die Wände und die Zimmerdecke nachgaben, wie die Räume einzusacken drohten, wie sie leer und tot und museal wurden, und dann fing er an, hektisch aufzuräumen, Ordner heranzuschleppen, zu durchwühlen, sie krachend zuzuschlagen, um nicht auch so leer und tot und museal zu werden, aber als er nach draußen hörte, war dort alles still.
    Das Karnickel war nach wenigen Wochen eingegangen. Es konnte sich nicht umgewöhnen. Es verweigerte das Möhrenkraut, das es von nun an ohne menschliche Wärme fressen sollte. Es hockte in seiner Buchte hinter Tons Garage, sah die Wand an und atmete immer flacher. Eines Morgens lag es mit offenen Augen im Karnickelurin, und Ton fragte sich jetzt, Jahre später, ob seinen ursprünglichen Besitzer vielleicht am Ende das gleiche Schicksal ereilt hatte.
    Er hatte ihn nur noch einmal gesehen. Der Mann hatte ihn eingeladen in seine Platte. Er hatte von Gelderumverteilungen und Notlagen geschwatzt und herausgekommen war, dass er eine gewaltige Summe in einen windigen Autohandel auf dem Territorium der Ex- DDR gesteckt und verloren hatte. Herausgekommen war auch, dass seine Tochter in einen teuren Scheidungsprozess verwickelt war, weshalb er jetzt ganz auf Ton zählte. Ton, der seine Fühler zu westlichen Investoren doch längst ausgestreckt, der in Sachen Immobilien und Grundstücke Kontakte hätte, der für einen wie ihn Verwendung haben müsste bei diesem ganzen Brachland, das jetzt zu bebauen wäre.
    Der Mann hatte an seinen Stolz appelliert und an
unsere verschworene Gemeinschaft
, die Elite, die sie immer noch waren und deren das Gesockse draußen, auch das aus dem Westen, nichts wert war. Er benutzte Worte wie
alter Kämpe
und
durchhalten
und
treu bleiben
, er sagte
verbündet
und
zusammengeschweißt
und
niewiederKrieg
, und Ton hatte gedacht, dass diese Jahrgänge noch nie einen Blick fürs Kommende besessen hatten. Also hatte er ihm ein paar zeitgemäße Hinweise zu Risikoeinsatz und Profilanalysen des Geschäftspartners gegeben. Aber der Mann hatte ihn nur angeglotzt und dann den Schnaps wie zur Gegenwehr hinuntergeschüttet. Kein Wort der Dankbarkeit. Und trotzdem hatte Ton sich an der Tür noch einmal umgedreht. Er hatte einen grünen Schein unter den Aschenbecher auf dem Tisch gelegt, einen anfeuernden Ruf ausgestoßen, und dann hatte er diesen Mann aus den Augen verloren.
    Er hatte viele aus den Augen verloren. Was umgekehrt nicht unbedingt der Fall war, wie Felix Ton wusste. Deshalb vergaß er nie, wem er einen Gefallen schuldete und wer ihm. Auch als die Brisanz dieses Themas nachließ und die Leute aufhörten, sich für die Vergangenheiten der Macher zu interessieren, schrieb er noch Kürzel hinter die Namen ins Adressbuch: ein GO war einer, dem er was schuldete, ein SO , einer, der bei ihm in der Kreide stand, war das O durchgestrichen, war der Fall erledigt.
    Ansonsten wendete er sich wieder dem zu, was ihm das Leben weniger lang werden ließ.
    Dem Glühen. Dem Rausch der Energie.
    Ton stellte das leere Cognacglas auf den Tisch und öffnete die Fenster. Die heiße Augustnacht schlug ihm mit ihrer ganzen Schwüle entgegen. Und während er noch einmal versuchte, sich daran zu erinnern, was er damals wirklich gedacht hatte hinter allem vorgedachten oder vorgemachten Denken, lief nur der Schlager weiter durch seinen Kopf, hörte nicht auf,
drum lach nur über mich, denn am Ende lach ich über dich,
ein beruhigendes, hohles Mantra, das er noch eine Weile dulden wollte, bevor er einen dieser privaten Jugendsender im Radio suchen und auf volle Lautstärke stellen und mit diesem unsinnigen Herumdenken Schluss machen würde. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, wie man mit bestimmten Dingen Schluss machte.
    Eine Straßenbahn hielt. Die Türen öffneten sich in die leere Nacht. Niemand stieg aus. Feldberg verspätete sich. Es war halb elf. Gewöhnlich hielt sich Feldberg an Absprachen. Es konnte nur mit der Brisanz der Angelegenheit zu tun haben, dass er nicht rechtzeitig aufkreuzte. Ton freute

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