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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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sich schon auf das Gesicht, das er machen würde, wenn er aus der Bahn stieg. Er würde in einen lächelnden Hochglanz-Ton hineinlaufen. Das Plakat hing an jeder Haltestelle. Es zeigte ein starkes Lächeln, ein Lächeln, das Halt gab. Selbst wenn die Leute sich nur in ihm spiegelten, ihren Lippenstift nachzogen oder ihren Gesichtsausdruck prüften, den das Dunkel seiner Haare unter Glas perfekt zurückwarf, gingen sie innerlich gestärkt davon.
    Das Plakat zeigte eine Machermiene.
Jetzt gib mir den Macher
, hatte der Fotograf gesagt, einer dieser Jungen, die ihre Professionalität durch hängende Hosen und große knallige PVC -Taschen betonten, was ihm gefiel. Es hatte genau die zerstreute Kraft, die er an sich selber mochte, und für eine Sekunde erlaubte Ton sich zu denken, Inez würde aus der nächtlichen Straßenbahn steigen. Sie würde stehen bleiben und dann wahrscheinlich wegsehen. Aber seine Vorstellung dirigierte sie dicht vor das Plakat. Er sah sie vor sich, wie sie den Stolz auf sein herausforderndes Lächeln zu verbergen suchte. Das gefiel ihm so gut, dass er sich erlaubte, auch an ihre Haare zu denken, hell im Schein einer Laterne, an den Flaum unter ihren Achseln, die Härchen an ihren Flanken, an ihren Arsch auf der Rückbank. Diesen festen jungen Arsch, den sie ihm so gern angeboten hatte. Nachts auf den Fellsitzen seines Wartburgs. Ihr Höschen in den Kniekehlen. Das Dach, das zu niedrig, die Vordersitze, die zu nah waren. Wie er es manchmal ganz langsam gemacht hatte, trotz der Enge. Wie er es sie ganz langsam hatte spüren lassen. Er erlaubte sich auch, an ihr Zittern zu denken, mit dem sie kam, und an dieses andere Zittern später, Wut oder Angst, als sie sich wie eine Verrückte vor ihm ausgezogen hatte und er schon wusste, dass er wieder das Gleiche sagen würde.
Lass mal. Zieh dich wieder an!
    Aber das lag an der Nachtluft, die vielversprechend schwül war, und am verheißungsvollen Summen der Bahn, die sich so dunkel lockend entfernte, als sei dort, wo sie verschwand, alles Mögliche denkbar, und es lag an einem Glas Hennessy zu viel. Eigentlich dachte er längst nicht mehr so.
    Felix Ton sah in die Nacht.
    Er sah den Straßenstaub, der sich klebrig auf Autos, Häuser und Sterne gelegt hatte, und er sehnte sich nach Regen. Er sehnte sich jeden Sommer nach einem schweren warmen Landregen, nach diesem anschwellenden, berauschenden Pladdern aus seiner Kindheit, als er in Gummistiefeln in schnell wachsenden Pfützen gespielt hatte, als er das Leergut aus dem Keller mit dem braunen Schlammwasser gefüllt und gewartet hatte, bis es aufklarte, um es dann unter die vollen Flaschen zu schmuggeln und zu sehen, was passierte, wenn die Alten eine Pulle Schlammwasser erwischten. Aber es war nie etwas passiert. Sie hatten die Flaschen immer an den geöffneten Verschlüssen erkannt.
    Mit der Sehnsucht nach dem Regen war die Assoziation des Wegschwemmens und Auslöschens verknüpft, was ihm bewusst war oder nicht. Bewusst war ihm, dass er diese Sehnsucht immer im August verspürte und dass er sich, wenn es im August tatsächlich regnete, danach sehnte, dass es heftiger und anders regnete. Und jetzt, wo es seit Wochen nicht geregnet hatte, war sein Lächeln an der Haltestelle staubbedeckt. Eine grauschlierige Schicht machte seine Machermiene stumpf, und er beschloss, bei der Stadt anzurufen und darum zu bitten, die Putzfirma öfter zu den Werbetafeln der Straßenbahnhaltestellen zu schicken.
    Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst
. Der Schlager blieb hartnäckig. Der Schlager brachte ihn auf das zurück, was er sich eigentlich hatte vor Augen führen wollen.
    Inez.
    Inez auf einer Vogelinsel in ihrer dürftigen Existenz als Einzelgängerin, der sie sich seit Jahren verschrieben zu haben schien, und vor allem: weit weg. Und so sollte es bleiben.
    Sie war lange her. Sehr lange. Äonen. So lange, dass er sich beim Gedanken, jemals mit ihr zusammengewesen zu sein, wie ein Fossil vorkam, eines dieser weißen, löchrigen Dinger, nach denen Inez immer wie eine Verrückte den Strand abgesucht hatte, und dann hatte sie nichts gefunden als Glasscherben.
    Später hatte er eine Abmachung mit ihr getroffen.
    Es war eine faire Abmachung.
    Es war eine faire und beschissene Abmachung, und jetzt war es fast elf.
    Eine leichte Nervosität machte sich hinter Tons Augen bemerkbar. Feldberg war zurück von Stora Karlsö, es gab keinen Grund für die Verspätung. Es sei denn, er hatte schlechte Nachrichten oder

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