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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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notgedrungene Abmachung, und er hatte sie jetzt gebrochen. Im Eifer der Kandidatur war er zu weit gegangen. Die Presse hatte sich seine Legende, wie er aus Gewohnheit immer noch sagte, begeistert einverleibt. Der
wiedervereinigte Vater
kam gut an. Er war sogar dem
Spiegel
eine Seite wert gewesen. Selbst wenn er einen Rückzieher machen und nicht mehr versuchen würde, den Kontakt zu seinem Kind herzustellen, würde sich das mediale Karussell weiterdrehen.
    Herr Ton, könnten Sie uns nicht ein Babyfoto zur Verfügung stellen?
    Herr Ton, verraten Sie uns doch, wo und wann Sie Ihre schwangere Freundin zum letzten Mal gesehen haben!
    Herr Ton, wir hätten Sie gern noch mal im O-Ton.
Ein Witz, den er bis zum Erbrechen zu hören bekam.
    Er war nicht der Typ, der Rückzieher machte.
    Er war der Typ, der einen wie Feldberg nach Stora Karlsö schickte.
    Der Typ, der eine Idee gegen alle Hindernisse
verteidigte
, wie er gern sagte. Den Hindernisse demütigten. Der von einer Idee so tief erfasst wurde, dass es ihm körperliche Schmerzen bereitete, sie nicht durchzusetzen.

Inez Rauter
    klappte das Notizbuch zu.
    Ton war ihr vertraut. Was sie überraschte, war die Tatsache, dass Feldberg es geschafft hatte, sich einer deutsch-schwedischen Trägerschaft anzudienen, unter der das zweitälteste Naturschutzgebiet der Welt stand. Es gab keinen Zusammenhang zwischen Feldberg und Ton und einem Naturschutzgebiet.
    Was sie überraschte, war, dass die Leute Feldberg immer noch glaubten. Er hatte beim Vereinsvorsitzenden durchgesetzt, dass sie als studierte Biologin mit einer Spezialisierung in Ornithologie und Umweltwissenschaften und mit praktischen Erfahrungen im Umweltschutz seit der letzten Mitarbeiterversammlung Protokolle über ihre Arbeit anfertigen, ihre Tätigkeiten stündlich auflisten und begründen und einmal die Woche einem Vertreter des Vereins persönlich Bericht erstatten musste. In den Protokollen ging es auch um den neuen Praktikanten. Man dachte darüber nach, ihm den weiteren Aufenthalt auf der Insel zu verweigern. Was sie überraschte war, dass Feldberg für all das keinen Nachweis einer Befähigung erbringen musste.
    Er war abgereist. Aber das hieß nichts. Sie konnte nicht einschätzen, wie weit er noch gehen würde. Seinem Druck hatte sie schon jetzt nicht standgehalten. Die alten Bilder waren da. Das reichte.
    Sie stand auf. Sie schob die kleine Fußbank vor den Schrank und holte den Koffer herunter. Es war möglich, dass Feldberg in ihrer Hütte gewesen war. Bei schönem Wetter ließ sie das Fenster offen, das auf die Felswand hinausging, und es wäre ihm leicht gefallen, sich Zugang zu verschaffen. Sie zog den Reißverschluss auf. Sie klappte eine Schutzhülle zurück und tastete nach dem versteckten Notizbuch. Es war das Erste, das sie je geführt, und das Einzige von allen, das sie bis heute aufgehoben hatte. Sie vergewisserte sich, dass es noch da war. Sie machte den Koffer wieder zu und schob ihn auf den Schrank zurück.
    Dann nahm sie ein Glas aus dem Abtropfkorb und entkorkte eine Flasche Wein. Draußen war es hell, vielleicht Mittag. Sie begriff, dass sie jetzt eine starke Gegenwart brauchte, um sie dem Mahlstrom der alten, heraufdrängenden Bilder entgegenzusetzen. Sie goss sich ein Glas Rotwein ein. Sie trank.
    Draußen frischte der Wind auf. Sie sah das Wasser in der Ferne weiß aufblitzen, Schaumkämme, die breiter wurden, länger auszinkten, dann wieder tief hineingesteckt wurden ins Grau der Ostsee, die etwas Besonderes hatte. Sie war verspielt. Im Grunde war sie nur ein See. Aber sie öffnete sich weit genug, um den Anschein eines Ozeans zu erwecken. Die Ostsee täuschte das Meer gewissermaßen vor. Und um die Glaubwürdigkeit der Täuschung zu erhöhen, brachte sie einzelne Elemente des Meeres ins Spiel: Salzwasser. Muscheln und Möwen. Feuersteine, Tordalken und Lummen. Den geographischen Beweis, dass die Ostsee ein Stück vom Weltmeer war, erbrachten die dänischen Meerengen mit ihrem Durchlass zum Kattegat.
    Diese Verrücktheit hatte Inez schon als Kind geliebt. Mehr noch als den herben Algengeruch, die weichen Kreidefelsen und Kalksteinstrände, die Dünen, dahinter das flache, kiefern- oder wacholderbestandene Land. Vielleicht lag es daran, dass sie als Kind kein anderes Meer gekannt hatte. Vielleicht lag es auch an der Unscheinbarkeit der Ostsee. Sie war nichts weiter als ein sauerstoff- und artenarmes Brackwassermeer, und so öde das klang, so sehr verbarg sich darunter eine Schönheit, die

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