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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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nicht alles seit damals passiert, dachte Felix Ton und atmete den Cognac ein. Es war ein würziger, milder Geruch, der das sanfte Glühen vorwegnahm, mit dem sich das Getränk in seiner Kehle und dem Magen ausbreiten würde.
    Was hatte man damals nicht alles gedacht, dachte er, und was dachte man nicht alles heute, und wie wenig hatte das eine oder das andere mit dem zu tun, was man wirklich dachte, dachte er. Aber wenn man mal darüber nachdachte, war das nicht so leicht auszudenken. Was dachte man denn in Wirklichkeit von dem, was man damals gedacht hatte, oder besser, von dem man in der Öffentlichkeit so getan hatte, als hätte man es gedacht, weil man doch dachte, man denke innerlich anders. Er jedenfalls. Und was dachte er heute innerlich, wenn er an den wenigen Abenden, an denen er nicht eine LPG besuchen musste oder ein Obstweinfest oder eine von zig Wahlkampfveranstaltungen in der Lausitz oder der Uckermark, auf seiner Couch saß und den Cognac schwenkte. Wenn er ganz ehrlich war, dann wusste er zwar genau, dass er nicht so dachte wie draußen auf den Veranstaltungen, aber je länger er über diese Unterscheidung nachdachte, umso unmöglicher wurde es, das zu Ende zu denken, eine übermenschliche Verrenkung.
    Dann fiel ihm ein Schlager ein. Und der Schlager erinnerte ihn an das, worüber er eigentlich hatte nachdenken wollen, und er entspannte sich und nahm einen Schluck vom Cognac.
    Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur, du denkst, du hast ein leichtes Spiel, doch ich weiß, was ich will, drum lach nur über mich, denn am Ende lach ich über dich
.
    Die wichtigsten Dinge hatte er sofort geregelt. Da war nichts mehr zu holen. Die feinen Kollegen von der Grenze hatten ihre Mäuler vor Staunen und Schreck noch nicht wieder zugeklappt und eifrig Nachrichten durch die Gegend gefaxt, die zwar formal den Anforderungen entsprachen, inhaltlich aber Stuss waren, als er schon längst damit begonnen hatte, ganze Stöße durch den Reißwolf zu jagen. Das sah ein Blinder, wie schnell die Ersten auf die Idee kommen würden, die Zentralen zu stürmen,
er
hatte es vorausgesehen. Da musste die Mauer nicht erst in kleinen Bröckchen um die Welt wandern, da war die Mauer noch gar nicht geöffnet worden. Kurz nach neunzehn Uhr an jenem entscheidenden Tag war er noch einmal ins Büro gefahren, um den Rest der Papiere durchzugehen und so weit zu sondieren, dass am Ende bestimmte Karteieinträge und Vorgänge unter seinem Namen nicht mehr existierten. In Berlin bei der Auslandsspionage standen sie schon bis zu den Knöcheln in der Papierpampe, nur hier zögerten sie. Als sei es nicht bescheuert genug gewesen, so lange den Befehlen eines Greises zu folgen, warteten sie auch jetzt noch darauf, dass er ihnen zu Hilfe käme.
    Vielleicht war Ton aus irgendeinem Grund besser als andere in der Lage, verschiedene Perspektiven einzunehmen und die Seite zu wechseln, und er dachte nicht:
die gegnerische Seite
, denn wenn er ehrlich war, und da Felix Ton mit dem dritten Glas Hennessy auf der Couch saß, war er sehr ehrlich, dann hätte er an ihrer Stelle auch so gehandelt. Er hätte als Erstes die Zentralen gestürmt. Er wusste, dass er nur zufällig auf der anderen Seite war. Zufällig hatten sich in diesem Land, in das er mit Hilfe eines gedankenlosen Ficks während der Kartoffelernte hineingeboren wurde, die meisten Möglichkeiten dort geboten, wo er gelandet war.
    Dort summte es.
    Dort glühte die Energie durch die Leitungen. Ein Dummerjan, wer das nicht nutzte.
    Da suchten sie Leute und gaben ihnen Entfaltungsspielräume, die sich in dieser Einhunderttausendquadratkilometerbeengtheit nirgendwo sonst auftaten, was ihm, wann immer er darüber nachdachte, leicht die Luft genommen hatte. Aber er dachte nicht oft darüber nach, und außer dem Karnickel, das er vorübergehend und ebenso zufällig besaß, erfuhr davon niemand. Das Karnickel hatte er von dem Mann geerbt, der ihn auf eine Empfehlung Feldbergs als
Perspektivkader
vorgeschlagen und ihm einen Studienplatz in Karlshorst besorgt hatte. Als der Kollege mit seiner Frau zusammengezogen war in eine zentralbeheizte Dreiraumwohnung, konnte er den Hasen nicht mitnehmen, und schlachten wollte er das Tier nicht, weil er wider Erwarten an ihm hing. Felix Ton hatte er angewiesen, dem Hasen keinen Namen zu geben und ihn nicht zu streicheln, auch nicht beim Füttern, damit ihm für den Fall, dass er ihn schlachten wollte, nicht der gleiche Fehler unterlief.
    Zu viel Feindkontakt
, hatte

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