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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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wollte ihn aus irgendeinem Grund schmoren lassen.
    Ohne Feldberg kam er in der Sache nicht weiter. Nicht aus übertrieben großer Vorsicht oder weil irgendein Ehrbegriff ihn davon abhielt, eine Abmachung zu brechen, sondern weil er diese Frau nicht einschätzen konnte. Er hatte schlicht keinen Handlungsmodus bei ihr.
    Ein einziges Mal hatte sie sich bei ihm gemeldet. Das war kurz nach der Wende. Er war damals gerade beim Tapezieren gewesen. Er hatte die Tapete in schönen langen Bahnen an der Wand ausgestrichen, Seidentapete, die wie von selber fiel, nicht dieses störrische Zeug von früher, das Blasen zog und flatterte. Er hatte oben auf der Leiter gestanden, der Kollege, der ihm geholfen hatte, in einer blauen Werksjacke unten. Es war nicht Feldberg gewesen. Feldberg lag im Krankenhaus. Der Kollege hatte seine neuen Sting- CD s mitgebracht, und Ton hatte das Telefon nicht gleich gehört. Als es zum zweiten Mal klingelte, war die Bahn ausgestrichen. Er war auf dem Weg in die Küche, um Kaffee zu machen.
    »Ich bin’s. Inez.«
    Dass sie seine Nummer kannte, hatte ihn irritiert.
    »Wir müssen was klären.«
    Er hatte gehört, wie ihre Stimme zitterte, und sich in aller Ruhe an die Wand gelehnt.
    »Ich bin gerade beim Tapezieren, sonst hätte ich gesagt, komm vorbei und lass uns was trinken.«
    »Wie passend«, sagte Inez.
    »Was?«
    »Nichts.«
    »Bist du in der Nähe? Kann ich dich irgendwo abholen?«
    »Nein.«
    »Na komm! In welche Laubhütte hast du dich verkrochen? Schlaues Mädchen, fünf Jahre in Deckung, meine Hochachtung. Aber wenn du mal den Fernseher einschaltest, wirst du merken, dass das nicht mehr nötig ist. Also, sag mir, wo du bist, ich sammel dich ein und wir trinken einen Versöhnungsschluck. Ich hätte dich übrigens gefunden«, sagte er. »Wenn ich gewollt hätte.«
    Sie war still.
    »Schon gut. Was ist los.«
    »Alles bleibt beim Alten«, sagte sie. »Auch wenn die Mauer jetzt auf ist.«
    »Klar, meine Süße. Bleibt immer alles beim Alten.«
    Er hatte gehört, wie sie atmete. Er meinte sogar zu hören, wie sie ihre trockenen Lippen mit der Zunge befeuchtete.
    »Ich bin gar nicht in Deckung gegangen«, hatte sie auf einmal und irgendwie überrascht gesagt. »Wie denn. Wie hätte ich das denn machen sollen deiner Meinung nach:
in Deckung gehen?
Bist du schon so abgehoben, dass du nicht mehr weißt, in welchem Land wir gelebt haben?«
    »Sag mir genau, was du meinst«, hatte er gesagt.
    »Ich dachte, du hättest damit – als eine Art Entschuldigung.«
    »Ich habe gar nichts. Aber du wirst mir jetzt diesen Gefallen tun und mir sagen, was du meinst.«
    »Wieso hat der Shiguli nicht mehr unten gestanden? Die ganze Zeit stand dieser Shiguli da. Unter dem Fenster meiner Eltern. Und von einem Tag auf den anderen war er weg.«
    »Leute wie du hängen immer noch den alten Hirngespinsten nach.«
    »Und Leute wie du renovieren.«
    Er lachte. »Du weißt, dass ich den Jungen finde. Ich find’s raus. Selbst wenn du ihn eigenhändig in deiner Laubhütte verbuddelt hast.«
    Sie hatte eine Weile nichts gesagt. Und dann sagte sie leise: »Ich bin gespannt, was sie mit einem wie dir jetzt machen.«
    »Oder war’s gar kein Junge? Du hattest es so verdammt eilig, ich habe ihn ja noch nicht mal
gesehen
!« Er lehnte mit dem Ellbogen an der Wand. »Das Leben ist viel zu lang, um ihm das anzutun, Inez. Unserem Jungen!« Das hatte er ernst gesagt, und er hatte es aus tiefstem Herzen gesagt, er spürte, wie es in seinen Muskeln zog, als er es sagte, denn er hatte sich vorgestellt, dass es da draußen jemanden gab, der mit ebensolchen Muskeln herumlief und mit dem gleichen Überdruss wie er, jemand, der vielleicht dasselbe Problem mit dem Meniskus hatte oder haben würde und dazu die Augen von Inez, jemand, der jetzt knapp fünf Jahre alt war. Und er hatte gedacht, dass er gar nicht wusste, wie man mit einem fünf Jahre alten Menschen umging. Aber da hatte Inez gelacht. Es war ein unfrohes, seltsam hohes Lachen, und das Ziehen in den Muskeln war schlagartig weg.
    »Sag mir, was du meinst. Sprich es aus. Du willst mir sagen, dass ich die Hände von dem Jungen lassen soll. Du willst, dass ich meine schmutzigen Tschekistenhände von deinem sauberen Nachwuchs lasse.« Er spürte, wie sein Arm und die Hand mit dem Telefon blutleer wurden. »Weißt du was, Süße? Das kannst du haben. Ist gebongt. Unter einer Bedingung. Solange du nämlich die Schnauze hältst, wird hier niemand irgendwas machen.«
    Es war eine

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