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Sturz der Tage in die Nacht

Sturz der Tage in die Nacht

Titel: Sturz der Tage in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antje Rávic Strubel
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großen, geschwungenen Kragen, und für einen Moment war ich wie geblendet.
    »Also. Was nimmst du?«
    »Was immer du nimmst.«
    »Martini.« Sie winkte dem Kellner. »Du bist eingeladen.«
    Als der Kellner kam, bestellte ich zwei Martini auf Eis. Und bevor Inez etwas sagen konnte, fügte ich hinzu: »Europäischer Martini.«
    »Bist du sicher, dass sie die Hemingway-Version mit Olive hier überhaupt kennen?« fragte Inez, als der Kellner gegangen war.
    »Ob
die
das mit der Olive kennen, ist mir eigentlich egal.«
    Inez lachte. »Du willst also deine Weltläufigkeit raushängen lassen.«
    »Und? Wie war ich?«
    »Beeindruckend. Aber einen Schweden wirst du damit nicht aus der Ruhe bringen. Ihre größte Angst ist es, dass man sich über sie lustig macht.«
    »Das hatte ich nicht vor.«
    »Sobald sie diese Gefahr wittern«, sagte Inez, »ziehen sie sich in ihr Schneckenhaus zurück. Sie tun so, als würden sie tief über das Gesagte nachdenken. Unwissende legen ihnen das als Kälte oder Desinteresse aus. Aber eigentlich warten sie nur, bis sie sicher sein können, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.«
    »Darauf warte ich auch.«
    Inez sah mich ungläubig an.
    »Fester Boden unter den Füßen wäre mal eine Abwechslung.«
    »Hör zu, Erik«, sagte Inez ernst. »Ich war ein bisschen überfordert in letzter Zeit. Das bedeutet nicht, dass es so bleiben muss.«
    »Okay.«
    Als die Martinis kamen, hob sie ihr Glas, die Eiswürfel klirrten gegen die Glaswand.
    »Auf deine Hartnäckigkeit«, sagte Inez. »Ich an deiner Stelle hätte längst aufgegeben.«
    »Kann ich mir gar nicht vorstellen.«
    »Ich bin froh, dass du’s nicht getan hast.« Wir tranken.
    »Ich vermute mal, dass du deine Gründe hast. Und jetzt wäre eine Gelegenheit, sie mir zu sagen.«
    »Das werde ich.«
    Ich drehte mein Glas in der Hand. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letztemal einen Martini getrunken hatte.
    »Es gefällt mir«, sagte sie, »wenn jemand sich seiner Sache sicher ist. Mir ist diese Fähigkeit zwischendurch verlorengegangen. Ich musste sie mir erst wieder mühsam beibringen. Ich bin froh, dass du nicht aufgegeben hast«, sagte sie dann noch mal.
    »Ich werde auch jetzt nicht aufgeben.«
    Der Martini war klebrig.
    »Bestell was anderes.«
    »Ich glaube, ich würde lieber auf was anderes anstoßen.«
    »Auf uns«, sagte Inez nach kurzem Zögern.
    Sie hob das Glas.
    »Darauf, dass wir hier sind«, sagte sie. »Dass es ausgerechnet dir und mir passiert.«
    »Auf dich und deine Geheimnisse!«
    »Und auf deine Phantasie.«
    »Auf die Trottellummen«, sagte ich, »ohne die du nie auf diese Insel gekommen wärst und zum Gedenken an die Tordalke, die sich –«
    »Nicht«, sagte Inez. »Trinken wir darauf, dass dir deine Phantasie nicht ausgeht.«
    »Von mir aus.«
    »Solange dir die Phantasie nicht ausgeht, werde ich dich nicht langweilen. Was hat deine Mutter vorhin eigentlich dazu gesagt, dass du so lange weg bist?«
    »Nichts. Sie war beunruhigt, dass sie nichts von mir gehört hat.«
    »Dann muss sie jetzt erleichtert sein.«
    »Manchmal ist sie ein bisschen schwierig.«
    Inez sah mich an.
    »Sie ist nicht meine leibliche Mutter. Seit ich das weiß, denkt sie, ich würde sie mit anderen Augen ansehen, mit fremden Augen.«
    Ich hatte Annegret an diesem Tag angerufen. Ich hatte versucht zu erklären, was passiert war, während Inez im Teeladen losen Earl Grey gekauft hatte, und Annegret hatte versucht, mir keine Vorwürfe zu machen. Sie fragte nicht, wie lange ich noch bleiben würde. Sie redete darüber, wie sie den Umzug gemeistert hatte, und es war ein wenig wie früher, als erzählte sie eine witzige Geschichte. In ihrer Geschichte hatte eine naive ältere Dame eine Umzugsfirma engagiert und wurde, wie zu erwarten, von der Firma übers Ohr gehauen. Weil zwei der vier Packer nichts taten, als unten auf der Ladefläche zu stehen und sich darüber zu streiten, wer an diesem Tag die Anweisungen gab, hatte das Ganze viel länger gedauert als vereinbart. Das Sonderangebot, das nur für fünf Stunden galt, war zunichte, der Preis war um das Dreifache in die Höhe geschnellt. Die naive ältere Dame hatte den Männern trotzdem Kaffee gekocht, Schinkenbrote angeboten und ein gutes Trinkgeld gegeben, denn schließlich hätte einer der Packer ihr Sohn sein können, und an dieser Stelle war es nicht mehr wie früher. An dieser Stelle war es, als würde sie die Geschichte einem Fremden erzählen. Sie erwähnte nicht, dass der

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